Montag, 5. Dezember 2016

Shitty Shitty!


Headquarter der armenisch-orthodoxen Kirche, Beirut
Während mich aus Deutschland nebelweiße Bilder erreichen, die gruselige Temperaturen erahnen lassen, werden wirt noch immer mit strahlendem Sonnenschein verwöhnt. Dennoch aber wird es auch hier langsam kühler, und die vergangene Woche hielt die ersten Regentage für uns bereit, die Beirut in ein graues Licht tauchten. Weil es kein vernünftiges Abflusssystem gibt, steht das Wasser auf den Straßen – und weil ich im Blick auf 300 Sonnentage in den Libanon geflogen bin, ohne an die 65 Regentage zu denken, verlasse ich das Haus zunächst ohne Regenschirm. Ein Fehler, für den ich momentan mit einer nervtötenden Erkältung bezahlen muss.
Langsam aber sicher bewegen wir uns auf die Weihnachtsferien zu – bis dahin stehen noch einige schriftliche Reflexionen, ein Referat und erste Klausurvorbereitungen auf dem Programm. In der vergangenen Woche habe ich mir neben den regulären Unterrichtseinheiten Zeit für zwei Berichte genommen, in denen ich mich mit zwei Ostkirchen-Besuchen beschäftigt habe. Am Dienstagabend verzichten Lydia, Maxie und ich auf das universitäre Abendessen, und gehen stattdessen mit Maxie's Besuch und einem libanesischen Bekannten von Lydia etwas essen. Nach einer etwas abstrusen Diskussion, in der uns unsere libanesische Begleitung versucht zu erklären, dass die arabische und die hebräische Sprache keinerlei Gemeinsamkeiten haben, sondern die hebräische Sprache vielmehr jegliche Ähnlichkeiten schlichtweg aus dem Arabischen geklaut habe, kehren wir zurück nach Hamra. Für Maxie endet der Abend bedauerlicherweise mit einem schwer verdorbenen Magen und einem Kurzbesuch im Krankenhaus.

Im Museum der Armenier
Somit fällt für sie der Ausflug in die armenische Kirche flach, der für den nächsten Tag angesetzt ist. Es wird der letzte Ausflug im Rahmen unseres Seminars über die Ostkirchen. Zunächst besuchen wir das 'Headquarter' der armenischen Kirche im Libanon, in dem wir ein Museum besuchen und uns mit einem Priester unterhalten. Da die Armenier immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren, die sie dazu zwangen zu fliehen, ist der Nahe Osten zu einem wichtigen Zentrum der Kirche geworden. Auch an der N.E.S.T gibt es zahlreiche Armenier, die in Beirut ausgebildet werden, weil hier armenische Traditionen in den Kirchen bestehen geblieben sind, die in Armenien durch die anti-kirchliche Prägung in der Sowjetunion verdrängt wurden.
Museum über den armenischen Genozid, Byblos





Im Anschluss machen wir uns auf den Weg nach Byblos, um dort ein erst kürzlich eröffnetes Museum zu besuchen, in dem der Genozid an den Armeniern in Texten und Bildern dokumentiert ist. Das Schicksal der Armenier erinnert mich in vielerlei Hinsicht an die jüdische Geschichte, die einige Parallelen aufzuweisen scheint. 

Auf dem Weg zum Sufi-Treffen
Es ist dunkel und verregnet, als wir in Byblos über das neu errichtete Gelände spazieren, und auch am nächsten Morgen werden wir von Donner und schweren Regenfällen geweckt. Nach einer Stunde Einführung in den Islam mache ich mich mit Lydia und einigen deutschen Pastorinnen auf den Weg zu einer spirituellen Begegnung: Auf unserem interreligiösen Ausflug in die Akkar Ebene lud eine der muslimischen Frauen dazu ein, an einem wöchentlichen Treffen zum sufistischen Gebet teilzunehmen. Unsere Straße, die auch an trockenen Tagen eine von Autos verstopfte Katastrophe ist, wurde durch den Regen zu einer einzigen Unmöglichkeit. Trotzdem beschlossen wir zunächst, uns in ein Taxi zu wagen, um dem Regen zu entkommen. Nach zwanzig Minuten im Auto, in denen wir uns vielleicht zwanzig Meter vorwärts bewegt hatten, zersprang plötzlich die hintere Fensterscheibe des Wagens und übersäte eine der Pfarrerinnen mit Glasscherben, ohne sie dabei zu verletzen. 
Der Taxifahrer, der außer sich vor Wut einem vorbeifahrenden Motorradfahrer die Schuld für die Misere gab, hatte nun jedenfalls zunächst andere Dinge zu tun, als uns weiter im Schneckentempo durch den Regen zu fahren. Da uns der Stau jede Menge Zeit geklaut hatte und die Zeit immer knapper wurde, beschlossen wir, das Verkehrschaos zu umgehen und stattdessen den Regen in Kauf zu nehmen. Trotz geliehenem Schirm landeten wir mit nassen Schuhen und Hosen ein paar Minuten zu spät bei den Frauen, dich sich zum Gebet getroffen hatten. Wir trafen auf viele bekannte Gesichter von unserem Ausflug in den Norden, und ich staunte nicht schlecht als sich herausstellte, dass eine der älteren Damen – die mich bereits bei unserem Tagestrip aufgrund ihrer faszinierenden Ausstrahlung beeindruckt hatte – die religiöse Führung des Gebets übernahm, und offenbar eine Art 'Guru-Position' innehat. Ganz in weiß gekleidet und in ein helles Kopftuch mit silberbunt leuchtenden Pailletten gehüllt, liest sie aus einem alten, zerfledderten Sufi-Buch, und teilt ihre Gedanken über den Text mit ihren Zuhörerinnen. Wir erhalten jeweils eine Übersetzung ins Englische.
Normalerweise, so wird uns erzählt, kommen um die zwanzig Frauen zum wöchentlichen Gebet. Heute sind es vielleicht acht. „Shitty, shitty“ - sagt eine Frau, die auf einem Sofa sitzt und mit ihrer Hand nach draußen zeigt. Wir lachen. „Shitty“ ist das Libanesisch-Arabische Wort für Regen, den die Frau für die Abwesenheit weiterer Teilnehmerinnen verantwortlich macht. Ein besseres Wort hätte man nicht erfinden können, um meine Gefühlslage gegenüber nasskaltem Regen und grauen Wolken treffender in Worte zu fassen. 

 
Das Gebet wird zu einer besonderen Begegnung, als die Frauen eine Sufi-Meditation durchführen, bei der auch wir aufgefordert werden, aufzustehen und mitzumachen. Die Frauen singen und trommeln, bewegen sich rhythmisch im Takt und tanzen und atmen sich langsam aber sicher in einen tranceähnlichen Zustand. Auch wenn ich mich lediglich mit den Frauen bewege, ohne den Atemrhythmus zu übernehmen, der einer Hyperventilation gleich zu kommen scheint, so ist es doch eine sehr intensive und teils befremdliche Erfahrung, derart nah am Geschehen teilzuhaben. Das Treffen endet mit Kaffee für alle und Wasserpfeife für die libanesischen Frauen, die sich über Gruppenfotos freuen, solange sie unter dem Koran und nicht der Wasserpfeife festgehalten werden.




Spaziergang durch Sidon
Am kommenden Tag bleibt mir endlich Zeit, mich an meine Texte für die Uni zu setzen, bevor wir Maxie und ich am frühen Abend in die American University gehen, um uns einen Vortrag von Patrick Cockburn, einem irischen Journalisten, über internationalen Journalismus in Syrien und im Irak anzuhören. Eine Veranstaltung, nach der sich mein Erkenntnisgewinn eher in Grenzen hält, wenngleich es immer wieder spannend ist, den leicht elitär wirkenden, politikwissenschaftlichen Nachwuchs an der American University zu beobachten. Nach dem Abendessen treffen wir uns außerdem mit Uwe Gräbe, der bei der EMS (Evangelische Mission in Solidarität, meine Entsendeorganisation) für uns zuständig ist, und für mehrere Konferenzen in den Nahen Osten gekommen ist. Bei einem Bier erzählen wir über unsere Eindrücke und Erfahrungen der ersten zwei einhalb Monate, sprechen über die Dynamik in unserer Gruppe und über theologische wie auch politische Differenzen. 


Hafen von Sidon
Am Samstag machen wir uns am Morgen auf den Weg in den Süden des Landes, um in Sidon ein islamisches Gericht zu besuchen. Wir sind mit unserem Islam-Dozenten Dr. Ford und einer libanesischen Studentin unterwegs, die sich intensiv mit islamischem Recht befasst. Wir besuchen nicht nur das Archiv des Hauses, sondern dürfen auch aktiv an den Verhandlungen teilnehmen, die uns die libanesische Studentin übersetzt. Wenngleich der Sheikh und Richter in erster Linie für finanzielle Anliegen zuständig ist, sind es häufig familiäre Angelegenheiten, die teils leise und teils lauthals vor uns verhandelt werden. 

Islamisches Gericht
Besonders emotional ist ein Fall, in dem ein Vater als Vertreter für seinen verheirateten Sohn erscheint, der seine Ehefrau offenbar geschlagen hat, die mit ihren Eltern erschienen ist. Die Frau ist mit einer Tochter schwanger, die sie offenbar selbstständig versucht hat abzutreiben, da sich der Ehemann offenbar einen Sohn wünscht, und der anwesende Vater außerdem damit droht, das Kind auch nach einer Scheidung zu sich und dem Mann holen zu wollen. Geschichten, die das Leben schreibt – und die sich selbst Fernsehrichter nicht schöner hätten ausdenken können.

Altstadt von Sidon
Gemeinsam mit dem freundlichen Sheikh spazieren wir nach den Verhandlungen durch die alten Souks der alten Stadt, die malerisch am Meer gelegen ist, und mich durch ihre alten Häuser und kleinen Gassen zu beeindrucken weiß. Nach einem überteuerten Mittagessen mit Meerblick in der Sonne kehren wir am Abend zurück nach Beirut.
Ich bin dankbar, als ich am Sonntag nach den zahlreichen Begegnungen ausschlafen kann, und verbringe den Tag vor dem Computer, um einen Bericht über meinen Gottesdienstbesuch der griechisch-orthodoxen Kirche zu schreiben.

Besuch im Flüchtlingslager
Auch die neue Woche beginnt mit einem ereignisreichen Tag, der am frühen Morgen mit einem Ausflug ins Flüchtlingslager führt. Endlich haben Maxie und ich Gelegenheit, gemeinsam mit den deutschen Pfarrern ein christliches Zentrum zu besuchen, in dem palästinensische Kinder, Jugendliche und Erwachsene gefördert und ausgebildet werden. Dort werden wir voraussichtlich ab Mitte Januar nach meiner Rückkehr aus Deutschland ehrenamtlich arbeiten.
Im Vergleich zur ersten Organisation, in der wir einige Wochen Englischnachhilfe gegeben hatten, scheint es hier wesentlich gesitteter zuzugehen. Die Kinder sitzen ruhig auf ihren Plätzen und begrüßen uns mit Liedern und strahlenden Augen. Nach einer Führung durch das Zentrum und einem langen Spaziergang durch die Tiefen des armseligen Camps vereinbaren wir einen ersten Termin, um den Ort bei einem zweiten Besuch noch besser kennenzulernen. 
Sonne und Zuckerwatte in Sidon

Mit Schnupfen und einem dicken Schädel meine ich für diesen Tag ausreichend Eindrücke gesammelt zu haben. Allerdings ist für den Nachmittag und frühen Abend ein weiterer Termin angekündigt, der uns in das Haus der 'Adyan'-Stiftung führt. Trotz Müdigkeit und Schnupfnase bereue ich es keine Sekunde, mich an diesem Tag ein zweites Mal aus dem Haus bewegt zu haben: Die interreligiöse Organisation, die sich Pluralismus und die Förderung eines guten Zusammenlebens auf die Fahnen geschrieben hat, entspricht auf den ersten Blick allen Kriterien eines für mich passend erscheinenden Arbeitgebers: Der Stiftung scheint es zu gelingen, akademisch religionswissenschaftliche Arbeit mit politisch-gesellschaftlichen Themen zu verknüpfen und dabei die spirituelle Ebene nicht außer Acht zu lassen. 

Kreuzfahrerburg in Sidon


Die Lebensgeschichte der Mitgründerin, mit der wir zum Gespräch an einen Tisch gekommen sind, erinnert mich in vielerlei Hinsicht an meine eigene. Die sympathische Muslima ist in einem religiös gemischten Umfeld aufgewachsen, hat eine christliche Schulbildung genossen und studierte später Religionswissenschaft, bevor sie 2006 mit anderen Christen und Muslimen die Stiftung gründete. Das Treffen mit ihr und dem Leiter der Organisation war bisher definitiv ein Highlight unter unseren zahlreichen Begegnungen. 

Mittagessen mit Meerblick in Sidon
Maxie, Lydia und ich sind von der Organisation sehr angetan, und hoffen, auch in Zukunft erneut ins Gespräch kommen zu können.
Mit Norah Jones und einer Packung Taschentücher nutze ich nun die Abendstunden, um die Erlebnisse der letzten Tage mit euch zu teilen und merke dabei, wie sich die Ereignisse überschlagen und wie viele Bilder und Eindrücke in der kurzen Zeit seit Jans Abreise auf mich eingerieselt sind.
Auch die folgenden Tage könnten kaum vollgestopfter sein. Allerdings erwäge ich, die ein oder andere Begegnung ausfallen zu lassen, um mit viel Tee und Schlaf erst Mal wieder fit zu werden, bevor die bunten und dunklen Eindrücke auf mich einprasseln werden, wie dicke, fette Regentropfen.

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