Mittwoch, 26. Oktober 2016

Ein Herbst ohne Norah Jones.



Prokrastination ohne Youtube
Die vierte Woche in Beirut hält einen neuen Stapel Texte und eine Deadline für uns bereit. Uns bleiben nur wenige Tage, um ein Essay im Rahmen der Einführung in den Islam fertigzustellen. Die kurze Analyse beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Verhältnis Christen zum Prophetentum Muhammads stehen. Obwohl ich mich in meiner Religionswissenschaftlerinnen-Ehre (falls es sowas geben sollte) teilweise dezent angegriffen fühle, als uns zur Lektüre Texte gegeben werden, die aus einer deutlich christlichen und teils semi-akademischen Perspektive geschrieben sind, kommt es durch die herausfordernden Artikel zu spannenden Diskussionen unter den Kommilitonen, die mich zum Schreiben, Nachdenken und Aufregen anregen. Ich bin sehr gespannt, wie unser Dozent auf meine Ausführungen reagieren wird, und hoffe auf eine angeregte Diskussion im Klassenraum.
Nachdem Maxie, Lydia und ich bereits in der vorigen Woche an einigen Ausflügen des 'al-sharq' Netzwerkes teilnehmen durften, begleiteten wir die Reisegruppe ein letztes Mal in die Heinrich-Böll Stiftung. Dort berichtete die Leiterin, Frau Dr. Bente Scheller, über die politische Lage des Landes seit Beginn der syrischen Flüchtlingskrise. Während wir in Deutschland mit einer Million Geflüchteten bereits maßlos überfordert scheinen, leben im Libanon zwischen 1-2 Millionen Syrer (mit genauen Zahlen hat es in diesem Land keiner so richtig..), bei etwa 4 Millionen Libanesen, etwa einer halben Million Palästinensern und einem Land, das etwa halb so groß wie Hessen ist. Dass diese Umstände nicht spurlos an der Bevölkerung vorbeigehen, liegt vermutlich auf der Hand. Umso spannender war es, einen fundierten und ortskundigen Überblick vermittelt zu bekommen, um die komplexen Verstrickungen langsam zu entwirren und Stück für Stück etwas besser zu begreifen.
Ausflug nach Gemmayzeh
Auf der Rückfahrt machen Maxie und ich einen kurzen Abstecher bei Virgin Records, dem wohl größten Musik- und Elektronikanbieter der Stadt. Es gibt nur eine Künstlerin, von der ich alle CDs besitze, und jene hat Anfang Oktober ein neues Album veröffentlicht: Norah Jones. Hoffnungsvoll folge ich der Aufforderung des Security-Manns am Eingang und überlasse ihm meine Handtasche (warum auch immer), bevor ich mich auf die Suche nach dem Album begebe. Bis auf etwa sechs Mitarbeiter ist der Laden leer. Kunden sucht man hier vergeblich. Ein Phänomen, das immer wieder ins Auge sticht: Ein völlig disproportionales Mitarbeiteraufkommen gemessen an der ausbleibenden Kundschaft. Selten steigern die zahlreichen Arbeitskräfte die Effektivität. Meist stehen sie sich augenscheinlich im Weg. Der große und moderne Laden wirkt, als sei in ihm etwa 2008 die Zeit stehen geblieben. Alles glänzt, doch das musikalische Angebot ist völlig veraltet. Das neue Album von Norah suche ich hier vergebens. Stattdessen sticht Maxie und mir in der Elektronikabteilung ein günstiger Scanner ins Auge. Seit wir bei unserem Copyshop-Fiasko zunächst 32 Euro für lächerliche 60 Seiten zahlten (von denen wir nach längerer Debatte zum Glück die Hälfte erstattet bekamen), und weil in der Uni die Scan-Funktion des Kopierers einfach nie funktioniert, beschlossen wir kurzerhand, das Gerät mitzunehmen. Unser Verkäufer war augenscheinlich etwas überfordert mit der Tatsache, dass tatsächlich endlich jemand etwas kaufen wollte. Überrascht stellte er fest, dass der Artikel nicht mehr im Sortiment vorhanden war, und packte uns kurzerhand das Ausstellungsmodell in einen Karton. Es wäre vermutlich zu einfach gewesen, hätte unsere Scanner-Geschichte an dieser Stelle ein Happy End gefunden. Stattdessen stellten wir beim Auspacken fest, dass der Verkäufer offenbar vergessen hatte, das Verbindungskabel zwischen Scanner und PC mit in den Karton zu legen. Ein Grund, wenige Tage später erneut in den Laden zu spazieren. 
Zunächst aber war es für mich und Maxie an der Zeit, eine erste Andacht an der N.E.S.T zu halten. Die tägliche Zusammenkunft zum kurzen Innehalten ist ein fester Bestandteil des Alltags an der Hochschule. Jede und Jeder ist angehalten, etwa ein Mal im Monat selbst eine Andacht zu gestalten. Mittwochs liegt der Schwerpunkt meist auf Liedern und weniger auf Texten, und weil unsere Andacht auf einen Mittwoch fällt, bestehen auch unsere 20 Minuten zum Großteil aus Musik und Gesang. Obwohl ich jener neuen Verpflichtung zunächst skeptisch entgegenblickte, macht es letztlich viel Spaß, selbst entscheiden zu dürfen, mit welchen Inhalten wir die Zeit füllen möchten.
Nach einer Uni-intensiven Woche und der Fertigstellung des Textes über Muhammad wird es Zeit, für einen Abend außerhalb von Hamra. Zunächst aber begeben wir uns erneut in den Virgin Store, um darüber in Kenntnis gesetzt zu werden, dass das fehlende Verbindungskabel nicht zum Standardpaket dazugehört. Einigermaßen irritiert versuche ich herauszufinden, wie sich erklären lässt, dass Drucker und Scanner standardmäßig ohne das entscheidende Kabel verkauft werden, mit dem sich das Gerät erst benutzen lässt. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage hat unser Verkäufer leider nicht, dafür aber ein extra abgepacktes Kabel, für weitere acht Dollar... Nach einer längeren Odyssee ist es uns nun also endlich möglich, Dateien zu scannen und bei Bedarf auch zu drucken. Weil sich im selben Geschäft auch eine Konzertkasse befindet, werde ich immerhin zufällig darauf aufmerksam, dass Mitte November die marokkanische Band Hindi Zahra ein Konzert in Beirut geben wird! Eine Veranstaltung, die ich mir nicht entgehen lassen kann. Die zauberhafte Musik und die eingängige Stimme der Sängerin haben mich in den letzten Jahren immer wieder beglückt und begleitet.

Geschichtenabend in Gemmayzeh
Nach unserem Kabelkauf verbringen wir den Abend im angesagten Gemmayzeh in einem Café, in dem Geschichtenerzähler angehalten sind, ihre Anekdoten mit dem Publikum zu teilen. Einige erzählen auf Arabisch, andere auf Englisch. In dem großen Laden trifft sich offenkundig die intellektuelle Elite und die Studierendenschaft der American University. Wir lachen über einen Ankunftsbericht eines amerikanischen Studenten, und staunen nicht schlecht, als wir bei einer arabischsprachigen Geschichte immerhin einigermaßen viele Vokabeln wiedererkennen.
Am kommenden Morgen mache ich mich ein zweites Mal mit Maxie auf den Weg ins Flüchtlingslager, um mit ihr Englisch zu unterrichten. Während die etwa fünfzehn Schüler in der vergangenen Woche beim ersten Aufeinandertreffen erstaunlich lieb und brav erschienen, ist das Eis in der zweiten Stunde augenscheinlich gebrochen. Den Kindern bereitet es große Freude, uns wie wild auf der Nase herumzutanzen. Ein Junge versteckt sich hinter der Tafel, ein Mädchen unter einem Plakat, ein anderes Kind wirft einen Tisch um und die Packung Druckerpapier, die wir für Schreibübungen mitgebracht haben, scheint wie von Zauberhand immer leerer zu werden. Als die ersten Papierbälle fliegen, ist das Chaos endgültig ausgebrochen. Während Maxie und ich mit unseren drei Brocken Arabisch versuchen, einigermaßen für Ruhe zu sorgen, ist es den Kindern ganz offensichtlich ein großer Spaß, unsere Grenzen auszutesten. Weil wir freiwillig und ohne bindende Verpflichtungen im Klassenraum stehen, können wir die mittelschwere Katastrophe gut verkraften und hoffen, in der nächsten Woche mit konsequentem Frontalunterricht wieder mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Da es für die palästinensischen Kinder keine normalen Schulen gibt, ist die Einrichtung in der wir unterrichten in erster Linie ein Zufluchtsort für die Kinder, an dem sie von der Straße fernbleiben und ihre Zeit einigermaßen sinnvoll verbringen können. Ohne jede Aussicht auf eine vielversprechende Zukunft fehlt es den Kindern an jeglicher Perspektive. Zwei Mädchen, die uns noch wenig zuvor ordentlich an der Nase herumgeführt haben, bringen uns nach der lauten Stunde zwei Gläser Wasser und grinsen uns mit unschuldigen Augen an. Es fällt schwer, ihnen wirklich böse zu sein. Den Abend lassen wir mit unseren männlichen deutschen Kommilitonen und Salam, einer syrischen Studentin der N.E.S.T, bei einem Bier in Hamra ausklingen.
Blick auf Byblos
Am kommenden Tag steht unser erster selbst organisierter Ausflug auf dem Programm: Lydia, Maxie und ich fahren mit öffentlichen Bussen nach Byblos, einer der am längsten besiedelten Orte der Welt. Dort begeben wir uns nicht nur auf die Spuren der Kreuzfahrer, sondern können auch an einem zauberhaften Sandstrand Ende Oktober im Mittelmeer baden. Die malerische kleine Stadt scheint ein Anziehungspunkt für libanesische Touristen, die zwischen Restaurants und Basar den Alltag vergessen können. Die Stadt fühlt sich ein bisschen an, wie ein orientalisches Ostseebad: Hier gibt es Meer, Souvenier- und Postkartenstände und jede Menge Essen. Es tut gut, die Aussicht auf die Steinwüste Beiruts für einige Stunden hinter sich zu lassen, und gegen das Meer und antike Gebäude auszutauschen.
Herbst in Byblos
Die Busfahrten sind nach wie vor ein kleines Abenteuer. Wenngleich die Busfahrer und auch die meisten Passagiere äußerst höflich sind, fühle ich mich trotzdem am wohlsten, wenn Maxie oder Lydia neben mir sitzen, und ich mich vor ungewollten Berührungen sicher fühlen kann. Männliche Blicke und Kommentare fallen im Großen und Ganzen wesentlich zurückhaltender aus, als ich erwartet hätte – und doch fällt das offensichtliche Nähebedürfnis einiger Männer gerade in den Bussen hin und wieder unangenehm auf.
Zu viel Worship gehört in den letzten Wochen..
Am Sonntag widme ich mich wieder der Uni und der ausstehenden Lektüre, und spaziere am Abend mit Maxie zum ersten Mal zu den Taubenfelsen, eine der bekannten Sehenswürdigkeiten der Stadt. Während wir den malerischen Sonnenuntergang bewundern stellen wir wieder ein Mal fest, dass sich der nicht-arabischsprachige Tourismus äußerst in Grenzen hält. Jeder „westlich“ erscheinende Tourist fällt uns sofort auf.
Taubenfelsen in Beirut
Die neue Woche beginnt mit einem morgendlichen Besuch in Gemmayzeh bei dem Maxie und ich feststellen müssen, dass die nachts so lebendige Gegend am Morgen ausgestorben zu sein scheint. Nach einem langen Spaziergang landen wir im 'Saifi Village', einer kleinen touristischen Oase, die ein Hostel, eine Sprachschule und ein nettes Restaurant beherbergt. Unseren Ausflug nutzen wir sogleich, um die Konditionen der Sprachschule zu erfragen. Voraussichtlich werden wir ab kommender Woche dort Arabisch lernen, um zwei Stunden mehr pro Woche zu nehmen, und gleichzeitig eine neue Lehrerin zu 'testen'. Am Abend machen Lydia, Maxie und ich es uns auf dem Balkon gemütlich, um eine Dokumentation über die syrischen Geflüchteten im Libanon anzusehen, die von der Heinrich-Böll Stiftung finanziert und uns bei unserem Besuch mitgegeben wurde.
Baden im Oktober
Die Kommentare der bedürftigen und armen libanesischen Bevölkerungsgruppe im Film lassen Wut, Unzufriedenheit und Ängste laut werden. Auch bei einem Tischgespräch beim Mittagessen mit einigen Studierenden der N.E.S.T wird deutlich, dass die Flüchtlingskrise zu großen Kontroversen und Herausforderungen führt.
Heute war ich am Nachmittag zum ersten Mal mit Maxie beim Sport. Kürzlich wurden wir darauf aufmerksam, dass eine dänische NGO ein wöchentliches Workout im Park anbietet, das sich lediglich an Frauen richtet. Gedacht ist das Angebot in erster Linie für Frauen und Mädchen, die sich das überteuerte Sportangebot Beiruts nicht leisten können. Aber auch wir sind herzlich eingeladen und rennen Parcours über den vom Krieg gezeichneten „Park“, der eher gelb als grün leuchtet. Das Gelände ist voller kaputter Gegenstände, die sich bestens zum Klettern und Springen eignen. Neben dem Park befindet sich eine weitere riesige Parkanlage, die bis vor einem Jahr aus politischen Gründen für über 20 Jahre geschlossen war, und durch einen Zaun von der anderen Anlage getrennt ist. Als unwissende Neuankömmlinge spazieren Maxie und ich natürlich zunächst in den riesigen Park, vorbei an Soldaten, die das Gebiet bewachen. Wenig später stehen wir vor dem riesigen Zaun – dahinter steht unsere dänische Trainerin mit zwei weiteren Mädchen. Wir lassen uns von ihr sagen, dass es nur zwei Wege gibt, auf die andere Seite zu gelangen: Entweder, wir laufen den gesamten Weg durch den riesigen Park zurück und dann ein Mal um das gesamte Gelände, oder – wir klettern über den Zaun.
Wenig später hängt Maxie auf dem Zaun, als plötzlich ein Wachmeister angelaufen kommt, der überraschenderweise nicht schimpft, sondern stattdessen seine Hilfe anbietet. Auch als sich einige Jungs um uns scharen, um die weibliche Gruppe beim Sport machen zu beobachten, kommen nach einer Weile die freundlichen Guards, um die jungen Männer zu vertreiben. Eine der Ideen der NGO ist es, den Frauen eine sichere Umgebung zu bieten, in der sie ohne Geld und ohne Männer Sport machen können. Women Empowerment scheint das Stichwort. Tatsächlich begegnen uns viele freundliche und doch überraschte Gesichter, als wir bei unserem Parcours-Rennen an Basketball- und Tennisfeldern vorbeirennen, und nahezu nur männliche Sportler passieren. Womöglich tut sich mit dem Angebot der NGO eine Möglichkeit auf, die völlig überteuerten Fitnessstudios der Stadt zu meiden und dennoch aktiv zu bleiben.
Sonnenuntergang in Byblos
Die Woche hält noch einiges bereit: Morgen steht ein Hip-Hop-Abend im Zeichen des Battleraps auf dem Programm. Am Donnerstag halten Maxie und ich bereits die nächste Andacht, und am Freitag fahren wir mit der gesamten Belegschaft der Uni auf das sogenannte „Fall Retreat“ - ein Community-Wochenende, das Gelegenheit zum besseren Kennenlernen bieten soll. Ich freue mich auf drei Tage außerhalb der N.E.S.T und bin gespannt, was ich beim Nächsten Mal von unserem Ausflug zu berichten haben werde.









Samstag, 15. Oktober 2016

Zwischen Kirchen und Kauderwelsch


Streetart in Beirut
Als wir am Donnerstagabend zwischen 'Art Lounge' und 'Community-Treffen' wählen müssen, wird uns die Entscheidung abgenommen: Spontan wird die 'Art Lounge' um eine halbe Stunde verschoben, sodass wir an beiden Veranstaltungen teilnehmen können. Als die neuen Repräsentanten des Sports-, Social life- und Spiritual life-Committees feststehen, begeben wir uns in den Keller des Gebäudes, um gemeinsam Kunst zu machen.
Geplant ist, in naher Zukunft die Fassade des Hauses mit bunten Kunstwerken aus Plastikflaschen und Zement zu verschönern. Zunächst aber haben wir die Möglichkeit, das Material kennenzulernen und erste kleine Arbeiten zu fabrizieren. Ich versuche, bunte Eier aus Zement herzustellen und verwende hierfür natürlich eines der wenigen Materialien auf dem Tisch, die nicht für die Arbeit mit Zement gedacht waren. Nicht so schlimm, findet unsere schwäbische Leiterin – und so fülle ich die weiß-graue Flüssigkeit in einen Plastikbehälter, der einer runden Eiswürfelform gleicht. Eine Woche später muss ich das Behältnis zerbrechen, um die Kugeln herauszulösen. Ein einigermaßen gelungener erster Versuch..

Wenig später steht uns ein erster Besuch im palästinensischen Flüchtlingslager bevor. Eine syrische Studentin der N.E.S.T begleitet uns und gibt sich jede Menge Mühe, den Weg und das chaotische Bussystem verständlich zu erklären. Dort vereinbaren Maxie, Lydia und ich einen Termin, um in Zukunft regelmäßig 5-10 Jährigen Englisch zu unterrichten.

Das zweite Wochenende in Beirut nutzen Maxie, Lydia und ich, um das westlich geprägte Hamra in den Abendstunden zu erkunden. Einen Ort für ein gediegenes Feierabendbier zu finden ist eine Leichtigkeit – ein Glas Arak hingegen entpuppt sich als echte Herausforderung. Letztlich aber werden wir fündig, und bekommen drei Gläser serviert – hausgemacht.
Bar in Hamra

Der Sonntag steht im Zeichen der Ost-Kirchen. Unsere erste Exkursion führt uns in einen assyrischen Gottesdienst. Es eröffnet sich uns eine zweistündige Prozedur, die einem antiken Theaterstück zu gleichen scheint. Ein roter Vorhang verdeckt zunächst den Altar, den Priester und seine Gehilfen – bis der Gottesdienst beginnt und der dicke Samtstoff zur Seite gezogen wird. Ein Chor steht auf der Empore und singt mal gemeinsam mal abwechselnd mit der Gemeinde die traditionellen assyrischen Gesänge und Gebete. Teil des Gottesdienstes ist außerdem der Friedensgruß unter den zahlreichen Besuchern, die sich während der Messe die Hände reichen und anschließend symbolisch küssen.
Im Anschluss lädt der Priester bei einer Tasse Kaffee zum Gespräch. Er betont, dass wir uns in der Kirche wie zu Hause fühlen sollten, und sie ein Ort für Menschen aller Konfessionen und Religionen sei. In einer Zeit, in der die Kirche vom Aussterben bedroht und ständiger Verfolgung ausgesetzt ist, bangen die Mitglieder um ihr Leben im Nahen Osten und die Existenz der Gemeinden. Umso erfreulicher scheint es, dass er in seinen Worten nicht nur Christen, sondern auch Muslime einschließt und als Gäste willkommen heißt.
Shiitisches Viertel, geschmückt für Ashura
Am Abend veranstaltet die N.E.S.T eine Gedenkzeremonie für einen ehemaligen Dozenten der Universität. Der zweite Gottesdienst im Laufe des Tages.
Wenig später machen sich Maxie und ich auf den Weg in ein Hotel in der Nähe, um eine deutsche Reisegruppe des Journalistennetzwerks 'al-shark' zu treffen. Die Gruppe reist derzeit für zehn Tage durch das Land und es besteht die Möglichkeit, als Außenstehender an einzelnen Programmpunkten teilzunehmen. An diesem Abend findet ein Vortrag zum Thema Pressefreiheit im Libanon statt, den wir gespannt verfolgen.
Am kommenden Montagmorgen begleiten wir die Gruppe in die Berghof-Stiftung, in der uns ein äußerst eloquenter Jordanier einen Einblick in die sunnitische Gesellschaft im Libanon vermittelt. Er selbst hat in Deutschland studiert und spricht ausgezeichnet Deutsch. Er zeichnet ein recht düsteres Bild der aktuellen politischen Verhältnisse, kritisiert die Nichtexistenz von Frauenrechten und betont die komplexen inner-sunnitischen Konflikte.
Spuren des Krieges inmitten von Beirut
Von Dienstag bis Donnerstag bleibt jeweils wenig Zeit für außeruniversitäre Aktivitäten. Die meiste Zeit verbringe ich auf der großen Terrasse des Hauses, lese einen Text nach dem nächsten und mache mir zahlreiche Notizen für anstehende Klausuren und mid-term Prüfungen. Dazwischen bleibt etwas Zeit, um neue Vokabeln zu wiederholen und bei der arabischen Heidi Klum in den Unterricht zu gehen. Unsere bisherigen Erfahrungen mit der Sprache sind meist verhältnismäßig ernüchternd: Die Dozenten und Studierenden sprechen allesamt hervorragend Englisch, und insbesondere von Lehrerseite scheint kein großes Interesse zu bestehen, uns die arabische Sprache näher zu bringen. Kleine Konversationen mit den Studierenden enden meist in großem Gelächter und mit dem Satz: „Sorry, I didn't understand it because of your accent.“ Der Studienalltag bietet demnach nicht die besten Voraussetzungen, um tatsächlich Arabisch zu lernen.

Im palästinensischen Flüchtlingslager
Im Flüchtlingslager hingegen, in dem Maxie und ich am Freitag das erste Mal Englisch unterrichtet haben, scheint die Ausgangslage wesentlich besser. Denn die Kinder, mit denen wir in der ersten Stunde das Schreiben des Alphabets geübt haben, können bis auf „How are you?“ so gut wie kein Wort Englisch. Meine bisher wohl längste Konversation auf Arabisch fand demnach mit einem vielleicht sechsjährigen Mädchen statt, die mich gefragt hat, wo ich wohne. Nach relativ kurzer Zeit habe ich leider überhaupt nichts mehr verstanden und konnte ihr keine Antwort mehr auf ihre folgenden Fragen geben, aber immerhin gab es bereits einen ersten Anfang eines Gesprächs. Nachdem ich vor der ersten Stunde einigermaßen aufgeregt war, ob und wie wir ohne wirkliche Sprachkenntnisse in der Klasse zurechtkommen würden, bin ich im Nachhinein umso glücklicher, dass wir den Versuch gestartet haben. Ich bin gespannt, wessen Sprachkenntnisse am Ende ausgeprägter sein werden: Unsere in Arabisch oder die der Kinder in Englisch..
Besuch beim syrisch orthodoxen Bischof
Zurück an der N.E.S.T wartet auf uns das Mittagessen, das mir ein zweites Mal offenbar nicht bekommt. Nach einem kurzen und für mich einigermaßen anstrengenden Gespräch mit Mitgliedern der Synode aus Württemberg verbringe ich den Rest des Tages im Bett und über dem Mülleimer.
Mit leerem Magen und etwas schlapp begebe ich mich am heutigen Samstag auf die zweite Ost-Kirchen-Exkursion. Wir treffen den Bischof der syrischen orthodoxen Kirche in Beirut und wenig später den Bischof der syrisch katholischen Kirche.
Zweiterer residiert in einem wunderschönen Kloster außerhalb Beiruts. Während wir in Hamra Tag für Tag stockendem Verkehr und tosendem Lärm ausgesetzt sind tut es gut, die zauberhafte Aussicht zu genießen und auf die beeindruckende Natur und das Meer zu blicken. Zwischenzeitlich machen wir außerdem Halt an einem Pilgerort der Maroniten. Dort befindet sich eine große Marienstatue, und weil Maria auch im Islam eine entscheidende Rolle spielt, treffen sich hier Menschen verschiedener Religionen, um hier zu beten und jede Menge Fotos zu machen.


Der Campus der AUB (American University Beirut)
Im Laufe der Woche ergab sich darüber hinaus, zum ersten Mal die American University zu besuchen, die nur wenige Minuten von uns entfernt ist. Dort studiert die libanesische und internationale Elite des Landes, und hat nicht nur Blick aufs Meer und einen malerischen Campus, sondern auch einen eigenen Strand. Chris, die Frau des Pfarrers der deutschen Gemeinde, hat mit drei weiteren Frauen ein Buch zum Thema „Frauenrechte“ herausgegeben, dass in einer öffentlichen Runde vorgestellt wird.

Wenig später versendet Chris außerdem den Aktionsplan für den anstehenden Weihnachtsbasar, für den im Vorhinein mit vereinten Kräften Kränze und Lebkuchenhäuser entstehen sollen, die später auf dem Markt verkauft werden können. So lässt sich womöglich in den kommenden Monaten trotz der sommerlichen Temperaturen auch für uns noch ein wenig Weihnachtsstimmung generieren.
In der kommenden Woche müssen wir für unseren Islam-Kurs das erste Kurzessay über Mohammed fertigstellen, Maxie und ich werden unsere erste Andacht halten, und wir werden an weiteren Gesprächen mit dem al-Sharq Netzwerk teilnehmen. Außerdem planen Maxie, Lydia und ich einen ersten Ausflug an den Strand von Byblos – eine Stadt die auf Fotos aussieht wie aus dem Bilderbuch.
„Der Libanon beginnt außerhalb der Straßen von Beirut“, sagte heute ein Kommilitone, und bei der Aussicht aus dem Kloster über das kleine Land denke ich, dass er Recht haben mag, und es hinter der dicht besiedelten Stadt noch jede Menge zu entdecken gibt.


Donnerstag, 6. Oktober 2016

Selfies, Scans, Schiiten.


Nach unserer ausgiebigen Stadtführung kehren Maxie und ich am Abend zurück ins Zentrum, um uns mit zwei Teilnehmern der alternativen Tour auf eine Limo zu treffen. In einer kleinen, gemütlichen Bar genießen wir die warmen Abendstunden im angesagten Viertel 'Mar Mikhael'. Etwas später stößt auch Joana dazu, eine Stipendiatin der Studienstiftung, mit der ich im Vorfeld via Facebook in Kontakt getreten war. Als wir uns auf den Rückweg nach Hamra machen, ist das Nachtleben zwischen Mar Mikahel und Gemmayzeh in vollem Gange. Menschen tanzen und singen, laute Musik hallt aus den klimatisierten Clubs und Cafés.
Uns bleiben nur wenige Stunden, bis wir uns am nächsten Morgen zum ersten Mal auf einen Ausflug außerhalb von Beirut machen.
„I've been working in the church for more than 20 years“, erzählt Lydia bei einem Mittagskaffee auf der großen Terrasse der N.E.S.T. Lydia ist die Ehefrau des Präsidenten der Schule, eine junggebliebene und moderne Frau. In den letzten Jahren, erzählt sie, habe sie das Wandern für sich entdeckt. Seither findet Kirche für sie nicht nur in Gebäuden, sondern vor allem auch in der Natur statt. Dort sagt sie, findet sie Ruhe und eine Auszeit vom hektischen Alltag der Großstadt. Lydia lädt uns ein, an einer der organisierten Wander-Touren teilzunehmen.
Am Sonntagmorgen um kurz nach sieben machen wir uns also auf den Weg, um pünktlich am Treffpunkt zu landen. Von dort fahren wir etwa eine Stunde Richtung Osten. Mit etwa fünfzig Leuten wandern wir bei strahlendem Sonnenschein zehn Kilometer durch die trockene und bergige Landschaft, die den Namen 'Lamartine Falougha' trägt. Von oben hat man einen fantastischen Blick auf Beirut und die Umgebung. Über der Stadt schwebt dunkler Smog, während in den Randbezirken große Rauchwolken über die Felder ziehen. Weil es im Libanon eine große Müllkrise gibt, verbrennen einige Menschen ihren Abfall selbst. Die Straßen im wohlhabenden Hamra sind sauber, allerdings wird der Müll von dort offenbar schlicht in anderen Vierteln wieder abgestellt. Und auch hier sieht man an der Corniche Menschen, die ihre Mülltüten hemmungslos ins Mittelmeer werfen. Im Wasser sammeln sich Plastikflaschen, Essensreste und jede Menge Dreck. Kein Ort, an dem man ohne weiteres ins Wasser springt. Nur wenige Männer sonnen sich auf den Steinen an der Corniche, einige von ihnen gehen auch schwimmen. 
Von unserem Ausflug im Osten kehre ich müde und einigermaßen rot nach Hause. Die brennende Hitze hat dank vergessener Sonnencreme ihre Spuren hinterlassen.
Die zweite Woche an der Nest beginnt mit einem Besuch im Copyshop. Maxie und ich wollen Texte scannen, die für eine Lehrveranstaltung auf dem Plan stehen. Als wir zwei Stunden später in den Laden zurückkehren, um die gescannten Dokumente abzuholen staunen wir nicht schlecht, als uns eine Rechnung von 49.000 libanesischen Lira - etwa 32 Euro - für 60 Scans und etwa 80 Kopien vorgelegt wird. Laut der Rechnung des Verkäufers, ein gutes Geschäft: Angeblich hat er uns auf Grund der hohen Stückzahl bereits über 100.000 Lira des originalen Preises erlassen.
Etwas irritiert und dreißig Euro ärmer kehren wir zunächst nach Hause. Ein Blick auf den USB Stick verrät das Ausmaß der kleinen Katastrophe: Anstatt weniger Seiten, hat ein Mitarbeiter offenbar ein gesamtes Buch gescannt. Andere Seiten fehlen, das Ergebnis ist nicht nur teuer sondern auch durch und durch fehlerhaft.
Am Mittag eröffnet uns einer der Studenten außerdem, dass ein Scan im Normalfall 50, und keine 1000 Lira kostet. Ein Grund, den Laden nach dem Essen erneut aufzusuchen. Nach einer längeren Diskussion über die fehlerhaften Scans und den unerklärlichen Preis erhalten wir immerhin die Hälfte des Geldes zurück.
Am Nachmittag steht außerdem die erste Stunde Arabischunterricht an. Nach 3 ½ Jahren Hocharabisch mit Unterbrechung werde ich ab sofort 4 x wöchentlich gesprochenes Arabisch lernen. Die Sprachschule befindet sich in der Nähe der Uni, unser Kurs besteht aus Maxie, Lydia und mir. Unsere Lehrerin, die aussieht wie die arabische Variante von Heidi Klum lehrt uns die praktischen Grundlagen der Alltagssprache. Wer meint, so groß könne der Unterschied zwischen Hocharabisch und dem Dialekt nicht sein, der irrt. Wenngleich viele Vokabeln letztlich gleich oder ähnlich sind, ist die Grammatik grundlegend anders. Bis auf die bereits bekannten Buchstaben und einige Wörter fangen wir praktisch bei Null an.
Während man im Hocharabischunterricht vorrangig lernt, diplomatische Gespräche über jordanische Delegationen zu führen, die momentan mit den Vereinten Nationen über die Wirtschaftsbeziehungen im Nahen Osten verhandeln, ist es jetzt ganz schön auch mal zu lernen, wie man sich einen Sandwich und eine Cola bestellt.
Als ich später auf der Terrasse meine Arabischhausaufgaben mache, kommt ein libanesischer Professor vorbei und fragt: „Studying arabic?“ - Als ich bejahe antwortet er lachend: „It's a waste of time, sister!“ Irritiert schaue ich ihn an. „Just kidding“, sagt er jetzt. Doch womöglich steckt hinter seiner Aussage etwas mehr, als ein simpler Witz.
Ich bin mir nicht sicher, ob er mir signalisieren wollte, dass die Sprache so schwer ist, dass ich sie nie lernen werde – oder ob er sie schlicht nicht für lernenswert hält. Und trotz seiner arabischen Wurzeln vermute ich eher zweiteres. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in dieser Stadt unverkennbar. Schnell wird deutlich, dass die Abgrenzung von der 'Unterschicht' nicht nur durch teure Autos und feine Kleidung, sondern vor allem auch durch die Sprache geschieht. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen hier nicht nur Arabisch, sondern auch hervorragendes Französisch und Englisch sprechen. In der Mittel- und Oberschicht, erzählt man uns, sprechen einige Eltern nur Französisch und Englisch mit ihren Kindern, und verzichten vollständig auf Arabisch, da es als Sprache der Armen und sozial Benachteiligten verstanden wird.
So ist es mitnichten ein Zufall, dass der gesamte Unterricht an der N.E.S.T auf Englisch stattfindet – Dies liegt nicht nur an der Verfügbarkeit aktuellerer theologischer Literatur, sondern sicherlich auch an dem Bedürfnis, Teil der gebildeten Elite des Landes zu sein und sich ein Fenster in andere Welten und Länder zu öffnen.
Am kommenden Tag steht ein erster Ausflug mit der Uni auf dem Programm. Am Abend versammeln wir uns, um gemeinsam eine schiitische Moschee zu besuchen, in der die 'Ashura' Feierlichkeiten in vollem Gange sind. 'Ashura' findet am zehnten Tag des ersten Monat im islamischen Kalender statt, und gedenkt dem Tod des – für die Schiiten – dritten Imams Husain.
Die Straßen rund um die Moschee sind umgeben von jeder Menge Sicherheitspersonal. Weil der IS seine Angriffe immer wieder gezielt gegen Schiiten richtet, sind Taschenkontrollen und eine bewaffnete Absicherung des Geländes notwendig.
Am Eingang erwartet uns eine in schwarz gekleidete, verschleierte junge Frau. Sie spricht perfektes Englisch und ist bereit, uns jegliche Fragen zu beantworten. Zunächst aber steht eine Frage im Vordergrund, die hier immer wieder von ganz besonderer Bedeutung zu sein scheint:
„Does anyone of you have a selfie-stick? - I'd love to take a picture!“ Nachdem sich bereits unsere Wanderung wie ein großes Fotoshooting anfühlte, scheint auch vor der schiitischen Moschee das Foto vor der Einführung in die traurige Geschichte des Imams zu stehen. Nach dem Foto aber steht sie uns ausführlich Rede und Antwort.
In diesen Tagen sieht man zahlreiche schwarz gekleidete Schiiten in Beirut. Auch unsere Gruppe erscheint in weitgehend dunklen Farben. Dennoch stechen wir mit unseren bunten Kopftüchern (und ich mit meinen Socken in den Sandalen...) deutlich aus der Masse heraus.
Männer und Frauen sind in der Moschee durch eine Trennwand voneinander separiert. Auf der Bühne werden Koranverse rezitiert, ein Mann singt mit weinerlicher Stimme die Geschichte des Imams und seiner Familie. Neben mir sitzt eine syrische Studentin, die einige Höhepunkte des Geschehens übersetzt. Doch auch ohne jedes Wort zu verstehen, spüren wir die tiefen Emotionen, die von den Anwesenden zum Ausdruck gebracht werden. Je länger die Veranstaltung voranschreitet, desto lauter wird das Wehklagen und Weinen der Frauen, die um uns versammelt sind. Immer wieder werden Taschentücher durch die Reihen gegeben. Ein emotionaler Ausbruch und eine sichtbare kollektive Trauer, die in dieser Form in der protestantischen Tradition undenkbar scheint. Nach der Zeremonie werden wir herzlich willkommen geheißen und mit Essen in Plastikboxen überschüttet. Zwischen Bildern von Hisbollah-Kämpfern, die in Syrien gegen ISIS kämpfen stehen wir mit unseren Schokoriegeln und sind einigermaßen überwältigt von der herzlichen Gastfreundschaft.
Am Mittwoch steht am frühen Morgen ein weiterer Amtsbesuch für unser Visum an. Erfreulicherweise werden wir auch dieses Mal von Hassan - einem Mitarbeiter der Uni - begleitet, und müssen die Armeekontrollen am Eingang nicht allein passieren. Bevor wir aufbrechen, blickt Hassan skeptisch auf unsere blanken Füße in Sandalen und bittet uns, für den Besuch auf dem Amt geschlossene Schuhe und schulterbedeckende Kleidung zu tragen. Mit gefütterten Schuhen und einem langärmligen Pulli im Turnbeutel bin ich bei über dreißig Grad für den Besuch im Amt bestens gewappnet. Auffällig sind neben den Bediensteten in Armeefarben vor allem die zahlreichen wohlhabenden Libanesen, die ihre Hausangestellten aufs Amt begleiten. Vor allem aus afrikanischen und asiatischen Ländern kommen die Pflegerinnen und Putzfrauen, die ihren Vorgesetzten meist wortlos folgen.
Nachdem wir der Beamten unsere Fingerabdrücke und Pässe gegeben haben, verlassen wir das Amt in der Hoffnung, möglichst bald unser Visum zu erhalten.
Langsam kehrt der Studienalltag ein, und obwohl wir lediglich drei Seminartermine in der Woche haben, verbringen wir Stunden damit, bei Kaffee und Sonnenschein das umfangreiche Textmaterial auf der Terrasse zu lesen.
Jeden ersten Mittwoch im Monat veranstaltet das deutsche Orient-Institut die sogenannten 'Gartengespräche', bei denen man bei kostenlosen Speisen, Bier und Wein die Gelegenheit hat, jede Menge Deutsche kennenzulernen, die in Beirut studieren, ein Praktikum absolvieren oder für ihre Doktorarbeit forschen. Wer denkt, Beirut sei derzeit ein ungewöhnliches Reiseziel, der mag recht haben. Dennoch bleibt die goldene Regel: Deutsche gibt es überall, und irgendwie in Massen. 
 
Wie es der Zufall will, lernen Maxie und ich gleich beim ersten Treffen jemanden kennen, der über arabischen Rap promoviert und uns vom wöchentlichen Rap-Battle in der Stadt erzählt. Ein Pflichttermin, die Veranstaltung früher oder später zu besuchen – das versteht sich vermutlich von selbst.
Nach einer weiteren Arabisch-Lektion bei Heidi Klum und einem Vormittag im gemütlichen Café 'Ta-Marbuta' stehen heute Abend zwei Veranstaltungen an der N.E.S.T zur Wahl: Entweder, ich widme meine Zeit einem kreativen Mal- und Zeichenabend, oder aber ich beteilige mich an einem Community-Treffen der N.E.S.T, bei der das Komitee der Studentenvertretung neu gewählt wird. Wie hoch das gemeinschaftliche Miteinander an der N.E.S.T gehalten wird, zeigt sich durch die schier unendlichen Angebote, die Studierende wie Dozierende auch außerhalb der Lehrveranstaltungen zusammenbringen. Zwei weitere spannende Ausflüge stehen in den kommenden Tagen außerdem auf dem Programm: Morgen werden einige von uns ein palästinensisches Flüchtlingslager besuchen, am Sonntag hingegen begeben wir uns zum Gottesdienst in eine assyrische Gemeinde, die erste Ost-Kirche auf unserem Lehrplan.
Dr. Rima gelang es auch in der zweiten Stunde, die alte Geschichte der assyrischen Kirche lebendig und strukturiert zu vermitteln: Die verschiedenen Auffassungen der körperlichen und göttlichen Gestalt Christi veranschaulichte sie mit Hilfe von Öl, Wasser und Wein.
Noch sind keine zwei Wochen seit unserer Ankunft vergangen, doch die Eindrücke und Ereignisse überschlagen sich schon jetzt. Es wird sich zeigen, welche Überraschungen die nächsten Tage für uns bereit halten.

Samstag, 1. Oktober 2016

Raus aus dem Nest!


Mit der Einführung in die Geschichte der Ost-Kirchen beginnt für uns der Studienalltag an der N.E.S.T. In 2 ½ Stunden rasen wir per Powerpoint durch 2000 Jahre der Kirchengeschichte. Ich kann mich an kein historisches Seminar erinnern, in dem ich zuvor jemals dermaßen konzentriert und gespannt zugehört habe. Dr. Rima unterrichtet strukturiert und unterhaltsam, die Einheit vergeht wie im Flug. Besonders gespannt bin ich auf die zahlreichen geplanten Exkursionen, die uns in die Kirchen führen, die wir im Unterricht behandeln.
Am Mittwoch folgte der zweite Kurs auf dem Stundenplan, eine Einführung in den Islam bei Dr. Ford. Etwas weniger strukturiert aber mindestens genauso spannend wirkt sein Plan für das kommende Semester. Auch mit ihm sind einige Ausflüge geplant, in der kommenden Woche steht bereits der Besuch einer schiitischen Moschee auf dem Plan, in der wir als Beobachter an einer 'Ashura'-Zeremonie teilnehmen werden. Plötzlich scheinen religionswissenschaftliche Vorlesungen zu Leben zu erwachen.
Um unser Studentenvisum zu erhalten, steht der ein oder andere bürokratische Termin auf dem Plan. Also nimmt uns der kleine Hausmeister - der lediglich Arabisch spricht - mit auf ein Amt und hilft uns, dem Visum durch ein zusätzliches Dokument einen Schritt näher zu kommen.
Am Abend findet eine Begrüßungsparty im Haus statt, die einem ersten Kennenlernen dient. Neben Kommilitonen, die Theologie an der N.E.S.T studieren, wohnen hier auch einige Studierende, die an anderen Universitäten in der Umgebung lernen und nur im Haus wohnen.
Wir werden in Gruppen aufgeteilt und versammeln uns um sieben Tische, auf denen Rezepte und verschiedene Lebensmittel liegen. Jede Gruppe hat 30 Minuten, um die Speisen zuzubereiten. In meiner Gruppe werden gefüllte Eier und ein Teller mit frischem Gemüse, Nachos und Quarkdip angerichtet. Eine halbe Stunde später stehen zahlreiche bunte Vorspeisen auf der Tafel, und laden zu einem zweiten Abendbrot ein. Unerfreulicherweise schlägt mir das selbst zubereitete Essen einigermaßen auf den Magen. Es folgt eine schlaflose Nacht und ein Tag, an dem ich mich ausschließlich von Keksen ernähren kann. 

Das Leben an der N.E.S.T begünstigt einen strukturierten Tagesablauf. Neben den Mahlzeiten steht auch eine tägliche Andacht auf dem Programm, die Zeit zu Einkehr und einem kurzen Moment des Innehaltens bietet. Äußerst ungewohnt, aber gleichzeitig sehr protestantisch und somit auch recht vertraut. Ähnlich nah wirkt auch die deutsche Gemeinde, die sich in der gleichen Straße unserer Uni befindet. Dort treffen wir bei einem spontanen Spaziergang auf den Pfarrer und seine Frau, die uns herzlich willkommen heißen und zu Aktivitäten in und mit der Gemeinde einladen.
Um den Mikrokosmos rund um die N.E.S.T für eine Weile zu verlassen, haben wir uns in den letzten Tagen immer wieder auf Spaziergänge durch die chaotische Stadt begeben. Ausgestorben und nahezu unheimlich wirkt das Downtown-Viertel, in dem sich ein teures Geschäft an das nächste reiht. Doch zwischen Gucci und Rolex fehlen die Käufer und Besucher. In den Straßen sind kaum Menschen unterwegs.
Am Freitag Abend beschließen Maxie und ich außerdem, das Institut Francais zu besuchen, um eine Podiumsdiskussion über Hip Hop im Libanon zu verfolgen. Hätte nicht gedacht, dass ich so schnell wieder bei meinem Lieblingsthema lande. Auf der Bühne sitzen ein Rapper, eine Breakdancerin und ein Graffiti-Künstler. Eine Szene, die offenbar erst nach dem Bürgerkrieg entstanden ist, und noch immer ein Untergrundleben zu führen scheint. Nach der Diskussion wird eine Graffiti-Ausstellung eröffnet, es gibt Snacks und ein paar tanzende Besucher, die ihre Fähigkeiten zum Besten geben.

Auf dem Weg in das französische Institut laufen wir durch ein muslimisch geprägtes Viertel, in dem zahlreiche bunte Flaggen hängen. Später erfahren wir, das die Bewohner die Straße in Vorbereitung auf 'Ashura' geschmückt haben.

Den Samstag widmen wir einer alternativen Stadtführung, in der uns ein junger Libanese durch die angesagten Viertel der Stadt führt, und uns währenddessen in die komplexe Geschichte des Landes einführt. Über fünf Stunden spazieren wir vom Gemmayze-Viertel bis nach Hamra, besuchen Kaffees, Künstlerateliers und einen Antiquitätenhandel. Es gibt viel zu entdecken, zwischen zerbombten Häusern und riesigen Wolkenkratzern. Gemmayze ist eines der hippen Studentenviertel, in denen sich gemütliche Kaffees und bunte Streetart finden lassen. Ein Ort an den es sicherlich lohnt, immer wieder zurückzukehren. In den ersten Tagen in Hamra fühlt sich das Leben an wie in einer Blase, einem wohlhabenden und westlichen Mikrokosmos. 


Umso schöner war es, in den vergangenen Tagen neue Ecken aufzusuchen, in denen sich die Starbucks-, Landrover- und American Eagle-Dichte etwas in Grenzen hält. Raus aus dem Mikrokosmos, dachte ich. Doch letztlich merken wir, dass sich in diesem Land Mikrokosmos an Mikrokosmos zu reihen scheint. Ob in den Straßen von Gemmayze, in denen aufstrebende junge, hippe Studenten ihre Träume zu verwirklichen versuchen, oder in den düster und verarmt wirkenden Ecken, in denen sich die Bevölkerung auf 'Ashura' vorbereitet: Hier leben Menschen dicht an dicht, deren Lebensrealitäten kaum unterschiedlicher sein könnten. Ich bin gespannt, in den kommenden Monaten möglichst viele Perspektiven kennenzulernen.