Donnerstag, 6. Oktober 2016

Selfies, Scans, Schiiten.


Nach unserer ausgiebigen Stadtführung kehren Maxie und ich am Abend zurück ins Zentrum, um uns mit zwei Teilnehmern der alternativen Tour auf eine Limo zu treffen. In einer kleinen, gemütlichen Bar genießen wir die warmen Abendstunden im angesagten Viertel 'Mar Mikhael'. Etwas später stößt auch Joana dazu, eine Stipendiatin der Studienstiftung, mit der ich im Vorfeld via Facebook in Kontakt getreten war. Als wir uns auf den Rückweg nach Hamra machen, ist das Nachtleben zwischen Mar Mikahel und Gemmayzeh in vollem Gange. Menschen tanzen und singen, laute Musik hallt aus den klimatisierten Clubs und Cafés.
Uns bleiben nur wenige Stunden, bis wir uns am nächsten Morgen zum ersten Mal auf einen Ausflug außerhalb von Beirut machen.
„I've been working in the church for more than 20 years“, erzählt Lydia bei einem Mittagskaffee auf der großen Terrasse der N.E.S.T. Lydia ist die Ehefrau des Präsidenten der Schule, eine junggebliebene und moderne Frau. In den letzten Jahren, erzählt sie, habe sie das Wandern für sich entdeckt. Seither findet Kirche für sie nicht nur in Gebäuden, sondern vor allem auch in der Natur statt. Dort sagt sie, findet sie Ruhe und eine Auszeit vom hektischen Alltag der Großstadt. Lydia lädt uns ein, an einer der organisierten Wander-Touren teilzunehmen.
Am Sonntagmorgen um kurz nach sieben machen wir uns also auf den Weg, um pünktlich am Treffpunkt zu landen. Von dort fahren wir etwa eine Stunde Richtung Osten. Mit etwa fünfzig Leuten wandern wir bei strahlendem Sonnenschein zehn Kilometer durch die trockene und bergige Landschaft, die den Namen 'Lamartine Falougha' trägt. Von oben hat man einen fantastischen Blick auf Beirut und die Umgebung. Über der Stadt schwebt dunkler Smog, während in den Randbezirken große Rauchwolken über die Felder ziehen. Weil es im Libanon eine große Müllkrise gibt, verbrennen einige Menschen ihren Abfall selbst. Die Straßen im wohlhabenden Hamra sind sauber, allerdings wird der Müll von dort offenbar schlicht in anderen Vierteln wieder abgestellt. Und auch hier sieht man an der Corniche Menschen, die ihre Mülltüten hemmungslos ins Mittelmeer werfen. Im Wasser sammeln sich Plastikflaschen, Essensreste und jede Menge Dreck. Kein Ort, an dem man ohne weiteres ins Wasser springt. Nur wenige Männer sonnen sich auf den Steinen an der Corniche, einige von ihnen gehen auch schwimmen. 
Von unserem Ausflug im Osten kehre ich müde und einigermaßen rot nach Hause. Die brennende Hitze hat dank vergessener Sonnencreme ihre Spuren hinterlassen.
Die zweite Woche an der Nest beginnt mit einem Besuch im Copyshop. Maxie und ich wollen Texte scannen, die für eine Lehrveranstaltung auf dem Plan stehen. Als wir zwei Stunden später in den Laden zurückkehren, um die gescannten Dokumente abzuholen staunen wir nicht schlecht, als uns eine Rechnung von 49.000 libanesischen Lira - etwa 32 Euro - für 60 Scans und etwa 80 Kopien vorgelegt wird. Laut der Rechnung des Verkäufers, ein gutes Geschäft: Angeblich hat er uns auf Grund der hohen Stückzahl bereits über 100.000 Lira des originalen Preises erlassen.
Etwas irritiert und dreißig Euro ärmer kehren wir zunächst nach Hause. Ein Blick auf den USB Stick verrät das Ausmaß der kleinen Katastrophe: Anstatt weniger Seiten, hat ein Mitarbeiter offenbar ein gesamtes Buch gescannt. Andere Seiten fehlen, das Ergebnis ist nicht nur teuer sondern auch durch und durch fehlerhaft.
Am Mittag eröffnet uns einer der Studenten außerdem, dass ein Scan im Normalfall 50, und keine 1000 Lira kostet. Ein Grund, den Laden nach dem Essen erneut aufzusuchen. Nach einer längeren Diskussion über die fehlerhaften Scans und den unerklärlichen Preis erhalten wir immerhin die Hälfte des Geldes zurück.
Am Nachmittag steht außerdem die erste Stunde Arabischunterricht an. Nach 3 ½ Jahren Hocharabisch mit Unterbrechung werde ich ab sofort 4 x wöchentlich gesprochenes Arabisch lernen. Die Sprachschule befindet sich in der Nähe der Uni, unser Kurs besteht aus Maxie, Lydia und mir. Unsere Lehrerin, die aussieht wie die arabische Variante von Heidi Klum lehrt uns die praktischen Grundlagen der Alltagssprache. Wer meint, so groß könne der Unterschied zwischen Hocharabisch und dem Dialekt nicht sein, der irrt. Wenngleich viele Vokabeln letztlich gleich oder ähnlich sind, ist die Grammatik grundlegend anders. Bis auf die bereits bekannten Buchstaben und einige Wörter fangen wir praktisch bei Null an.
Während man im Hocharabischunterricht vorrangig lernt, diplomatische Gespräche über jordanische Delegationen zu führen, die momentan mit den Vereinten Nationen über die Wirtschaftsbeziehungen im Nahen Osten verhandeln, ist es jetzt ganz schön auch mal zu lernen, wie man sich einen Sandwich und eine Cola bestellt.
Als ich später auf der Terrasse meine Arabischhausaufgaben mache, kommt ein libanesischer Professor vorbei und fragt: „Studying arabic?“ - Als ich bejahe antwortet er lachend: „It's a waste of time, sister!“ Irritiert schaue ich ihn an. „Just kidding“, sagt er jetzt. Doch womöglich steckt hinter seiner Aussage etwas mehr, als ein simpler Witz.
Ich bin mir nicht sicher, ob er mir signalisieren wollte, dass die Sprache so schwer ist, dass ich sie nie lernen werde – oder ob er sie schlicht nicht für lernenswert hält. Und trotz seiner arabischen Wurzeln vermute ich eher zweiteres. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in dieser Stadt unverkennbar. Schnell wird deutlich, dass die Abgrenzung von der 'Unterschicht' nicht nur durch teure Autos und feine Kleidung, sondern vor allem auch durch die Sprache geschieht. Es ist erstaunlich, wie viele Menschen hier nicht nur Arabisch, sondern auch hervorragendes Französisch und Englisch sprechen. In der Mittel- und Oberschicht, erzählt man uns, sprechen einige Eltern nur Französisch und Englisch mit ihren Kindern, und verzichten vollständig auf Arabisch, da es als Sprache der Armen und sozial Benachteiligten verstanden wird.
So ist es mitnichten ein Zufall, dass der gesamte Unterricht an der N.E.S.T auf Englisch stattfindet – Dies liegt nicht nur an der Verfügbarkeit aktuellerer theologischer Literatur, sondern sicherlich auch an dem Bedürfnis, Teil der gebildeten Elite des Landes zu sein und sich ein Fenster in andere Welten und Länder zu öffnen.
Am kommenden Tag steht ein erster Ausflug mit der Uni auf dem Programm. Am Abend versammeln wir uns, um gemeinsam eine schiitische Moschee zu besuchen, in der die 'Ashura' Feierlichkeiten in vollem Gange sind. 'Ashura' findet am zehnten Tag des ersten Monat im islamischen Kalender statt, und gedenkt dem Tod des – für die Schiiten – dritten Imams Husain.
Die Straßen rund um die Moschee sind umgeben von jeder Menge Sicherheitspersonal. Weil der IS seine Angriffe immer wieder gezielt gegen Schiiten richtet, sind Taschenkontrollen und eine bewaffnete Absicherung des Geländes notwendig.
Am Eingang erwartet uns eine in schwarz gekleidete, verschleierte junge Frau. Sie spricht perfektes Englisch und ist bereit, uns jegliche Fragen zu beantworten. Zunächst aber steht eine Frage im Vordergrund, die hier immer wieder von ganz besonderer Bedeutung zu sein scheint:
„Does anyone of you have a selfie-stick? - I'd love to take a picture!“ Nachdem sich bereits unsere Wanderung wie ein großes Fotoshooting anfühlte, scheint auch vor der schiitischen Moschee das Foto vor der Einführung in die traurige Geschichte des Imams zu stehen. Nach dem Foto aber steht sie uns ausführlich Rede und Antwort.
In diesen Tagen sieht man zahlreiche schwarz gekleidete Schiiten in Beirut. Auch unsere Gruppe erscheint in weitgehend dunklen Farben. Dennoch stechen wir mit unseren bunten Kopftüchern (und ich mit meinen Socken in den Sandalen...) deutlich aus der Masse heraus.
Männer und Frauen sind in der Moschee durch eine Trennwand voneinander separiert. Auf der Bühne werden Koranverse rezitiert, ein Mann singt mit weinerlicher Stimme die Geschichte des Imams und seiner Familie. Neben mir sitzt eine syrische Studentin, die einige Höhepunkte des Geschehens übersetzt. Doch auch ohne jedes Wort zu verstehen, spüren wir die tiefen Emotionen, die von den Anwesenden zum Ausdruck gebracht werden. Je länger die Veranstaltung voranschreitet, desto lauter wird das Wehklagen und Weinen der Frauen, die um uns versammelt sind. Immer wieder werden Taschentücher durch die Reihen gegeben. Ein emotionaler Ausbruch und eine sichtbare kollektive Trauer, die in dieser Form in der protestantischen Tradition undenkbar scheint. Nach der Zeremonie werden wir herzlich willkommen geheißen und mit Essen in Plastikboxen überschüttet. Zwischen Bildern von Hisbollah-Kämpfern, die in Syrien gegen ISIS kämpfen stehen wir mit unseren Schokoriegeln und sind einigermaßen überwältigt von der herzlichen Gastfreundschaft.
Am Mittwoch steht am frühen Morgen ein weiterer Amtsbesuch für unser Visum an. Erfreulicherweise werden wir auch dieses Mal von Hassan - einem Mitarbeiter der Uni - begleitet, und müssen die Armeekontrollen am Eingang nicht allein passieren. Bevor wir aufbrechen, blickt Hassan skeptisch auf unsere blanken Füße in Sandalen und bittet uns, für den Besuch auf dem Amt geschlossene Schuhe und schulterbedeckende Kleidung zu tragen. Mit gefütterten Schuhen und einem langärmligen Pulli im Turnbeutel bin ich bei über dreißig Grad für den Besuch im Amt bestens gewappnet. Auffällig sind neben den Bediensteten in Armeefarben vor allem die zahlreichen wohlhabenden Libanesen, die ihre Hausangestellten aufs Amt begleiten. Vor allem aus afrikanischen und asiatischen Ländern kommen die Pflegerinnen und Putzfrauen, die ihren Vorgesetzten meist wortlos folgen.
Nachdem wir der Beamten unsere Fingerabdrücke und Pässe gegeben haben, verlassen wir das Amt in der Hoffnung, möglichst bald unser Visum zu erhalten.
Langsam kehrt der Studienalltag ein, und obwohl wir lediglich drei Seminartermine in der Woche haben, verbringen wir Stunden damit, bei Kaffee und Sonnenschein das umfangreiche Textmaterial auf der Terrasse zu lesen.
Jeden ersten Mittwoch im Monat veranstaltet das deutsche Orient-Institut die sogenannten 'Gartengespräche', bei denen man bei kostenlosen Speisen, Bier und Wein die Gelegenheit hat, jede Menge Deutsche kennenzulernen, die in Beirut studieren, ein Praktikum absolvieren oder für ihre Doktorarbeit forschen. Wer denkt, Beirut sei derzeit ein ungewöhnliches Reiseziel, der mag recht haben. Dennoch bleibt die goldene Regel: Deutsche gibt es überall, und irgendwie in Massen. 
 
Wie es der Zufall will, lernen Maxie und ich gleich beim ersten Treffen jemanden kennen, der über arabischen Rap promoviert und uns vom wöchentlichen Rap-Battle in der Stadt erzählt. Ein Pflichttermin, die Veranstaltung früher oder später zu besuchen – das versteht sich vermutlich von selbst.
Nach einer weiteren Arabisch-Lektion bei Heidi Klum und einem Vormittag im gemütlichen Café 'Ta-Marbuta' stehen heute Abend zwei Veranstaltungen an der N.E.S.T zur Wahl: Entweder, ich widme meine Zeit einem kreativen Mal- und Zeichenabend, oder aber ich beteilige mich an einem Community-Treffen der N.E.S.T, bei der das Komitee der Studentenvertretung neu gewählt wird. Wie hoch das gemeinschaftliche Miteinander an der N.E.S.T gehalten wird, zeigt sich durch die schier unendlichen Angebote, die Studierende wie Dozierende auch außerhalb der Lehrveranstaltungen zusammenbringen. Zwei weitere spannende Ausflüge stehen in den kommenden Tagen außerdem auf dem Programm: Morgen werden einige von uns ein palästinensisches Flüchtlingslager besuchen, am Sonntag hingegen begeben wir uns zum Gottesdienst in eine assyrische Gemeinde, die erste Ost-Kirche auf unserem Lehrplan.
Dr. Rima gelang es auch in der zweiten Stunde, die alte Geschichte der assyrischen Kirche lebendig und strukturiert zu vermitteln: Die verschiedenen Auffassungen der körperlichen und göttlichen Gestalt Christi veranschaulichte sie mit Hilfe von Öl, Wasser und Wein.
Noch sind keine zwei Wochen seit unserer Ankunft vergangen, doch die Eindrücke und Ereignisse überschlagen sich schon jetzt. Es wird sich zeigen, welche Überraschungen die nächsten Tage für uns bereit halten.

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