Nach unserer ausgiebigen
Stadtführung kehren Maxie und ich am Abend zurück ins Zentrum, um
uns mit zwei Teilnehmern der alternativen Tour auf eine Limo zu
treffen. In einer kleinen, gemütlichen Bar genießen wir die warmen
Abendstunden im angesagten Viertel 'Mar Mikhael'. Etwas später stößt
auch Joana dazu, eine Stipendiatin der Studienstiftung, mit der ich
im Vorfeld via Facebook in Kontakt getreten war. Als wir uns auf den
Rückweg nach Hamra machen, ist das Nachtleben zwischen Mar Mikahel
und Gemmayzeh in vollem Gange. Menschen tanzen und singen, laute
Musik hallt aus den klimatisierten Clubs und Cafés.
Uns bleiben nur wenige
Stunden, bis wir uns am nächsten Morgen zum ersten Mal auf einen
Ausflug außerhalb von Beirut machen.
„I've been working in
the church for more than 20 years“, erzählt Lydia bei einem
Mittagskaffee auf der großen Terrasse der N.E.S.T. Lydia ist die
Ehefrau des Präsidenten der Schule, eine junggebliebene und moderne
Frau. In den letzten Jahren, erzählt sie, habe sie das Wandern für
sich entdeckt. Seither findet Kirche für sie nicht nur in Gebäuden,
sondern vor allem auch in der Natur statt. Dort sagt sie, findet sie
Ruhe und eine Auszeit vom hektischen Alltag der Großstadt. Lydia
lädt uns ein, an einer der organisierten Wander-Touren teilzunehmen.
Am Sonntagmorgen um kurz
nach sieben machen wir uns also auf den Weg, um pünktlich am
Treffpunkt zu landen. Von dort fahren wir etwa eine Stunde Richtung
Osten. Mit etwa fünfzig Leuten wandern wir bei strahlendem
Sonnenschein zehn Kilometer durch die trockene und bergige
Landschaft, die den Namen 'Lamartine Falougha' trägt. Von oben hat
man einen fantastischen Blick auf Beirut und die Umgebung. Über der
Stadt schwebt dunkler Smog, während in den Randbezirken große
Rauchwolken über die Felder ziehen. Weil es im Libanon eine große
Müllkrise gibt, verbrennen einige Menschen ihren Abfall selbst. Die
Straßen im wohlhabenden Hamra sind sauber, allerdings wird der Müll
von dort offenbar schlicht in anderen Vierteln wieder abgestellt. Und
auch hier sieht man an der Corniche Menschen, die ihre Mülltüten
hemmungslos ins Mittelmeer werfen. Im Wasser sammeln sich
Plastikflaschen, Essensreste und jede Menge Dreck. Kein Ort, an dem
man ohne weiteres ins Wasser springt. Nur wenige Männer sonnen sich
auf den Steinen an der Corniche, einige von ihnen gehen auch
schwimmen.
Von unserem Ausflug im
Osten kehre ich müde und einigermaßen rot nach Hause. Die brennende
Hitze hat dank vergessener Sonnencreme ihre Spuren hinterlassen.
Die zweite Woche an der
Nest beginnt mit einem Besuch im Copyshop. Maxie und ich wollen Texte
scannen, die für eine Lehrveranstaltung auf dem Plan stehen. Als wir
zwei Stunden später in den Laden zurückkehren, um die gescannten
Dokumente abzuholen staunen wir nicht schlecht, als uns eine Rechnung
von 49.000 libanesischen Lira - etwa 32 Euro - für 60 Scans und etwa
80 Kopien vorgelegt wird. Laut der Rechnung des Verkäufers, ein
gutes Geschäft: Angeblich hat er uns auf Grund der hohen Stückzahl
bereits über 100.000 Lira des originalen Preises erlassen.
Etwas irritiert und
dreißig Euro ärmer kehren wir zunächst nach Hause. Ein Blick auf
den USB Stick verrät das Ausmaß der kleinen Katastrophe: Anstatt
weniger Seiten, hat ein Mitarbeiter offenbar ein gesamtes Buch
gescannt. Andere Seiten fehlen, das Ergebnis ist nicht nur teuer
sondern auch durch und durch fehlerhaft.
Am Mittag eröffnet uns
einer der Studenten außerdem, dass ein Scan im Normalfall 50, und
keine 1000 Lira kostet. Ein Grund, den Laden nach dem Essen erneut
aufzusuchen. Nach einer längeren Diskussion über die fehlerhaften
Scans und den unerklärlichen Preis erhalten wir immerhin die Hälfte
des Geldes zurück.
Am Nachmittag steht
außerdem die erste Stunde Arabischunterricht an. Nach 3 ½ Jahren
Hocharabisch mit Unterbrechung werde ich ab sofort 4 x wöchentlich
gesprochenes Arabisch lernen. Die Sprachschule befindet sich in der
Nähe der Uni, unser Kurs besteht aus Maxie, Lydia und mir. Unsere
Lehrerin, die aussieht wie die arabische Variante von Heidi Klum
lehrt uns die praktischen Grundlagen der Alltagssprache. Wer meint,
so groß könne der Unterschied zwischen Hocharabisch und dem Dialekt
nicht sein, der irrt. Wenngleich viele Vokabeln letztlich gleich oder
ähnlich sind, ist die Grammatik grundlegend anders. Bis auf die
bereits bekannten Buchstaben und einige Wörter fangen wir praktisch
bei Null an.
Während man im
Hocharabischunterricht vorrangig lernt, diplomatische Gespräche über
jordanische Delegationen zu führen, die momentan mit den Vereinten
Nationen über die Wirtschaftsbeziehungen im Nahen Osten verhandeln,
ist es jetzt ganz schön auch mal zu lernen, wie man sich einen
Sandwich und eine Cola bestellt.
Als ich später auf der
Terrasse meine Arabischhausaufgaben mache, kommt ein libanesischer
Professor vorbei und fragt: „Studying arabic?“ - Als ich bejahe
antwortet er lachend: „It's a waste of time, sister!“ Irritiert
schaue ich ihn an. „Just kidding“, sagt er jetzt. Doch womöglich
steckt hinter seiner Aussage etwas mehr, als ein simpler Witz.
Ich bin mir nicht sicher,
ob er mir signalisieren wollte, dass die Sprache so schwer ist, dass
ich sie nie lernen werde – oder ob er sie schlicht nicht für
lernenswert hält. Und trotz seiner arabischen Wurzeln vermute ich
eher zweiteres. Die Unterschiede zwischen Arm und Reich sind in
dieser Stadt unverkennbar. Schnell wird deutlich, dass die Abgrenzung
von der 'Unterschicht' nicht nur durch teure Autos und feine
Kleidung, sondern vor allem auch durch die Sprache geschieht. Es ist
erstaunlich, wie viele Menschen hier nicht nur Arabisch, sondern auch
hervorragendes Französisch und Englisch sprechen. In der Mittel- und
Oberschicht, erzählt man uns, sprechen einige Eltern nur Französisch
und Englisch mit ihren Kindern, und verzichten vollständig auf
Arabisch, da es als Sprache der Armen und sozial Benachteiligten
verstanden wird.
So ist es mitnichten ein
Zufall, dass der gesamte Unterricht an der N.E.S.T auf Englisch
stattfindet – Dies liegt nicht nur an der Verfügbarkeit
aktuellerer theologischer Literatur, sondern sicherlich auch an dem
Bedürfnis, Teil der gebildeten Elite des Landes zu sein und sich ein
Fenster in andere Welten und Länder zu öffnen.
Am kommenden Tag steht
ein erster Ausflug mit der Uni auf dem Programm. Am Abend versammeln
wir uns, um gemeinsam eine schiitische Moschee zu besuchen, in der
die 'Ashura' Feierlichkeiten in vollem Gange sind. 'Ashura' findet am
zehnten Tag des ersten Monat im islamischen Kalender statt, und
gedenkt dem Tod des – für die Schiiten – dritten Imams Husain.
Die Straßen rund um die
Moschee sind umgeben von jeder Menge Sicherheitspersonal. Weil der IS
seine Angriffe immer wieder gezielt gegen Schiiten richtet, sind
Taschenkontrollen und eine bewaffnete Absicherung des Geländes
notwendig.
Am Eingang erwartet uns
eine in schwarz gekleidete, verschleierte junge Frau. Sie spricht
perfektes Englisch und ist bereit, uns jegliche Fragen zu
beantworten. Zunächst aber steht eine Frage im Vordergrund, die hier
immer wieder von ganz besonderer Bedeutung zu sein scheint:
„Does anyone of you
have a selfie-stick? - I'd love to take a picture!“ Nachdem sich
bereits unsere Wanderung wie ein großes Fotoshooting anfühlte,
scheint auch vor der schiitischen Moschee das Foto vor der Einführung
in die traurige Geschichte des Imams zu stehen. Nach dem Foto aber steht
sie uns ausführlich Rede und Antwort.
In diesen Tagen sieht man
zahlreiche schwarz gekleidete Schiiten in Beirut. Auch unsere Gruppe
erscheint in weitgehend dunklen Farben. Dennoch stechen wir mit
unseren bunten Kopftüchern (und ich mit meinen Socken in den
Sandalen...) deutlich aus der Masse heraus.
Männer und Frauen sind
in der Moschee durch eine Trennwand voneinander separiert. Auf der Bühne werden
Koranverse rezitiert, ein Mann singt mit weinerlicher Stimme die
Geschichte des Imams und seiner Familie. Neben mir sitzt eine
syrische Studentin, die einige Höhepunkte des Geschehens übersetzt.
Doch auch ohne jedes Wort zu verstehen, spüren wir die tiefen
Emotionen, die von den Anwesenden zum Ausdruck gebracht werden. Je
länger die Veranstaltung voranschreitet, desto lauter wird das
Wehklagen und Weinen der Frauen, die um uns versammelt sind. Immer
wieder werden Taschentücher durch die Reihen gegeben. Ein
emotionaler Ausbruch und eine sichtbare kollektive Trauer, die in
dieser Form in der protestantischen Tradition undenkbar scheint. Nach
der Zeremonie werden wir herzlich willkommen geheißen und mit Essen
in Plastikboxen überschüttet. Zwischen Bildern von
Hisbollah-Kämpfern, die in Syrien gegen ISIS kämpfen stehen wir mit
unseren Schokoriegeln und sind einigermaßen überwältigt von der
herzlichen Gastfreundschaft.
Am Mittwoch steht am
frühen Morgen ein weiterer Amtsbesuch für unser Visum an.
Erfreulicherweise werden wir auch dieses Mal von Hassan - einem
Mitarbeiter der Uni - begleitet, und müssen die Armeekontrollen am
Eingang nicht allein passieren. Bevor wir aufbrechen, blickt Hassan
skeptisch auf unsere blanken Füße in Sandalen und bittet uns, für
den Besuch auf dem Amt geschlossene Schuhe und schulterbedeckende
Kleidung zu tragen. Mit gefütterten Schuhen und einem langärmligen
Pulli im Turnbeutel bin ich bei über dreißig Grad für den Besuch
im Amt bestens gewappnet. Auffällig sind neben den Bediensteten in
Armeefarben vor allem die zahlreichen wohlhabenden Libanesen, die
ihre Hausangestellten aufs Amt begleiten. Vor allem aus afrikanischen
und asiatischen Ländern kommen die Pflegerinnen und Putzfrauen, die
ihren Vorgesetzten meist wortlos folgen.
Nachdem wir der Beamten
unsere Fingerabdrücke und Pässe gegeben haben, verlassen wir das
Amt in der Hoffnung, möglichst bald unser Visum zu erhalten.
Langsam kehrt der
Studienalltag ein, und obwohl wir lediglich drei Seminartermine in
der Woche haben, verbringen wir Stunden damit, bei Kaffee und
Sonnenschein das umfangreiche Textmaterial auf der Terrasse zu lesen.
Jeden ersten Mittwoch im
Monat veranstaltet das deutsche Orient-Institut die sogenannten
'Gartengespräche', bei denen man bei kostenlosen Speisen, Bier und
Wein die Gelegenheit hat, jede Menge Deutsche kennenzulernen, die in
Beirut studieren, ein Praktikum absolvieren oder für ihre
Doktorarbeit forschen. Wer denkt, Beirut sei derzeit ein
ungewöhnliches Reiseziel, der mag recht haben. Dennoch bleibt die
goldene Regel: Deutsche gibt es überall, und irgendwie in Massen.
Wie es der Zufall will, lernen Maxie und ich gleich beim ersten
Treffen jemanden kennen, der über arabischen Rap promoviert und uns
vom wöchentlichen Rap-Battle in der Stadt erzählt. Ein
Pflichttermin, die Veranstaltung früher oder später zu besuchen –
das versteht sich vermutlich von selbst.
Nach einer weiteren
Arabisch-Lektion bei Heidi Klum und einem Vormittag im gemütlichen
Café 'Ta-Marbuta' stehen heute Abend zwei Veranstaltungen an der
N.E.S.T zur Wahl: Entweder, ich widme meine Zeit einem kreativen Mal-
und Zeichenabend, oder aber ich beteilige mich an einem
Community-Treffen der N.E.S.T, bei der das Komitee der
Studentenvertretung neu gewählt wird. Wie hoch das gemeinschaftliche
Miteinander an der N.E.S.T gehalten wird, zeigt sich durch die schier
unendlichen Angebote, die Studierende wie Dozierende auch außerhalb
der Lehrveranstaltungen zusammenbringen. Zwei weitere spannende
Ausflüge stehen in den kommenden Tagen außerdem auf dem Programm:
Morgen werden einige von uns ein palästinensisches Flüchtlingslager
besuchen, am Sonntag hingegen begeben wir uns zum Gottesdienst in
eine assyrische Gemeinde, die erste Ost-Kirche auf unserem Lehrplan.
Dr. Rima gelang es auch
in der zweiten Stunde, die alte Geschichte der assyrischen Kirche
lebendig und strukturiert zu vermitteln: Die verschiedenen
Auffassungen der körperlichen und göttlichen Gestalt Christi
veranschaulichte sie mit Hilfe von Öl, Wasser und Wein.
Noch sind keine zwei
Wochen seit unserer Ankunft vergangen, doch die Eindrücke und
Ereignisse überschlagen sich schon jetzt. Es wird sich zeigen,
welche Überraschungen die nächsten Tage für uns bereit halten.
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