Mittwoch, 21. Dezember 2016

Zwischen Powerpoint und Pyrotechnik.

Die Ereignisse der vergangenen Tage sind schnell erzählt und stellen dennoch ein Highlight dar: In der Zeit seit meinem letzten Blogeintrag ist erstaunlich wenig passiert. Etwas Alltag scheint eingekehrt zu sein, nach all den Ausflügen und Attraktionen. Ein Ort, an dem ich bisher verhältnismäßig wenig Zeit verbracht habe, ist die Bibliothek der N.E.S.T. Während ich in den wärmeren Herbsttagen meist auf dem Balkon gelesen habe, verschob sich mein Hauptarbeitsplatz in den letzten Wochen entweder in Gemeinschaftsräume, mein Zimmer oder andere Bibliotheken.
Am letzten Dienstag stand mir demnach eine Premiere bevor: Zum ersten Mal ließ ich mich für einige Stunden in der hauseigenen Bibliothek nieder, um an meinem Referat weiterzuarbeiten. Außerdem nahm ich mir etwas Zeit für einen Spaziergang durch den Regen, um die ersten Weihnachtsgeschenke zu besorgen.
Am Mittwoch morgen fuhr ich mit Maxie zum ersten Mal allein in das Zentrum im palästinensischen Flüchtlingslager, in dem wir ab Mitte Januar unsere Freiwilligenarbeit fortsetzen werden. Es dauerte eine Weile, bis wir uns gemeinsam mit der Leiterin auf einen Einsatzbereich in dem Haus mit den zahlreichen Möglichkeiten verständigen konnten. Im kommenden Jahr werden wir im Kindergarten der Einrichtung arbeiten, und mit den Kindern englischsprachige Lieder singen. Bereits am Mittwoch saßen wir für einen Moment auf den kindgerechten Miniaturstühlen an einem kleinen, runden Tisch, um einen ersten Eindruck einer der Klassen zu bekommen. Einigermaßen improvisiert ließ die Lehrerin die Kinder ein paar Lieder auf Arabisch und Englisch für uns singen. Im Vergleich zu der Schule, in der wir in den ersten Wochen unterrichtet haben, wirkt hier alles ein klein wenig strukturierter.
Bevor es am Nachmittag mit einer weiteren Folge Ostkirchen-Seminar weitergeht, mache ich mich auf einen weiteren Gang durch Hamra, um mich mit weiteren Weihnachtsgeschenken einzudecken. In den letzten Tagen merke ich, dass sich mein Gefühl für meine Umgebung ein wenig verändert hat. Während ich die Straßen in der Umgebung in den ersten Wochen zwar neugierig, aber doch vorsichtig erkundet habe, ist in der letzten Zeit die Neugier gemeinsam mit einem Gefühl der inneren Sicherheit in mir gewachsen. Während jede Busfahrt allein zunächst eine Herausforderung darzustellen schien, fühlt sich die Stadt nach nahezu drei Monaten inzwischen etwas vertrauter an. Ein gutes Gefühl.
St. Nicholas Treppen in Gemmayzeh
Am Donnerstag mache ich mich auf den Weg nach Gemmayzeh, um in der Bibliothek des Sursock-Museums meine Vorbereitungen für das bevorstehende Referat fortzusetzen. Während ich es mir zwischen Powerpointpräsentation und Wikipedia-Artikeln gemütlich gemacht habe, erreichen mich außerdem erfreuliche Neuigkeiten: Nachdem meine deutschen Kommilitonen und ich uns der Bürokratie ergaben, und erneut für unser Visum bezahlt haben, liegen bereits am selben Tag unsere Aufenthaltsgenehmigungen im Sekretariat der Hochschule bereit zur Abholung. Das erhoffte Weihnachtswunder ist somit eingetroffen: Ich darf in wenigen Tagen ausreisen ohne befürchten zu müssen, Anfang Januar nicht mehr hereingelassen zu werden.
Während ich mich in diesen Tagen mental auf meinen kurzen Besuch in Berlin und Bad Hersfeld vorbereite, steht für die deutschen Pastoren die endgültige Rückkehr nach Deutschland an. Nachdem die sechs in den letzten drei Monaten eine kurze Pause vom gewohnten Alltag eingelegt haben, steigen die meisten von ihnen noch bereits in diesem Monat mit bevorstehenden Weihnachtsgottesdiensten wieder in das Arbeitsleben ein. 
Mohammed Al-Amin Moschee
Zuvor aber fand am vergangenen Freitag die lang erwartete Weihnachtsfeier statt. Ein zweites Mal durften sich einige von uns in Schale werfen, um während des feierlichen Gottesdienstes ein paar Lieder in unseren bordeauxroten Roben zu singen. Im Anschluss stand außerdem ein festliches Weihnachtsmahl und ein gebührender Abschied von den Pastoren auf dem Programm. Außerdem war es an jenem Abend an der Zeit, bei Glühwein und Zimtsternen einem unserer Kommilitonen ein kleines Geschenk zu überreichen. Zu Beginn der Adventszeit zogen die meisten von uns einen Zettel, auf dem jeweils ein Name eines anderen Studierenden der Hochschule geschrieben stand. In den vergangenen Wochen hing für jeden Spielteilnehmer ein roter Weihnachtsstrumpf im Foyer, der vom jeweiligen 'Secret Santa' mit Süßigkeiten und kleinen Geschenken gefüllt wurde. Mit dem letzten Geschenk kam gleichzeitig die Auflösung des Rätsels, wer sich hinter dem persönlichen Weihnachtsmann verbarg. Ich wurde mit einem rosa Sparschwein aus Ton überrascht, das mir stolz von Yussif – einem syrischen Kommilitonen – überreicht wurde. Nachdem sich nach jeder Menge Twix eines Tages eine kleine Cherrytomate in meinem Strumpf befand, ging ich bereits davon aus, dass sich hinter meinem 'Secret Santa' ein Mensch mit Humor verbergen würde. Tatsächlich ist Yussif einer der lustigsten Menschen, die mir in meinem Leben je begegnet sind. Allein für die Erinnerung an seine zauberhaft unterhaltende Art habe ich mich sehr über das knallige Schweinchen gefreut. Ich hatte Marius – einen der zwei deutschen Jungs unserer Gruppe – gezogen, der offenbar bereits geahnt hatte, dass ich für die Geschenke in seinem Strumpf verantwortlich war. Während ich dachte, meine Geschenke seien vor allem durch Momo-Zitate und Briefpapier identifizierbar gewesen, meint er hingegen, ich habe mich durch meinen eindeutigen Süßigkeitengeschmack verraten. Dabei habe ich extra auf Snickers verzichtet, um die Spuren zu verwischen..
Auch das Wochenende stand im Zeichen der Universität. Nachdem Maxie und ich den Nachmittag erneut in der Bibliothek verbringen, werden wir am Abend mit einem Feuerwerk und musikalischer Unterhaltung für unsere Arbeit belohnt.
Im Herzen der Stadt, gleich neben der großen Muhammad Al-Amin Moschee wird mit einem Partywagen, lauter Musik und Ansprachen in zu hoher Tonlage der große Weihnachtsbaum zum Leuchten gebracht. So wenig die Konstruktionen aus Lichterketten, Kitsch und Plastik den Titel 'Baum' verdient, so sehr muss man den Libanesen doch eins lassen: Pyrotechnik können sie, und zwar wie! Während ein verrückt gewordener Weihnachtsmann von ein paar Soldaten durch die Menge geschoben wird und ein Karnevalsumzug über den Platz marschiert, bringt das beeindruckende Feuerwerk den schwarzen Nachthimmel zum Leuchten. 

Den Abend beende ich mit einem Bier in Hamra, bei dem Maxie von einem Fernsehsender zum Nachtleben Beiruts befragt wird. 
Am nächsten Morgen machen Clemens, Maxie, Lydia und ich uns auf den Weg, um am Gottesdienst einer armenisch-orthodoxen Gemeinde teilzunehmen. Die Kirche befindet sich in Bourj Hammoud, einer armenisch geprägten Ortschaft, die unmittelbar an Beirut grenzt.
Zwischen unzähligen Juweliergeschäften decken sich Maxie und Lydia nach dem zweistündigen Gottesdienst mit Trockenfrüchten ein. Außerdem verzichten wir auf das – sich auf Dauer wiederholende - Mittagessen der Hochschule und nehmen mit einer Falafel vorlieb. Am Nachmittag machen sich Maxie und ich daran, ein paar Ideen für unsere Dezemberandacht zu sammeln.
In der armenisch-orthodoxen St. Vartanants Kirche
Juweliergeschäfte in Bourj Hammoud
Die neue Woche beginnt mit einem ersten erfolgreichen Besuch im deutschen Orient-Institut. Nach zwei vorangegangenen Ausflügen in das arabische Haus, die vor verschlossenen Türen endeten, dringen wir nun endlich in die Bibliothek vor. Während sich Maxie und Lydia an ihre Ostkirchen-Berichte setzen, gestalte ich das Handout für mein Referat. Außerdem bin ich an jenem Tag mit meinen Gedanken in Deutschland: Erst, weil Jan seinen dreißigsten Geburtstag feiert, und ich traurig bin, nicht dabei sein zu können. Später, weil jemand mit einem LKW in einen Berliner Weihnachtsmarkt rast, und ich mich um Freunde und Familie in der Heimat sorge. Am Abend lernen Maxie, Lydia und ich außerdem zwei neue Kartenspiele von einer Ägypterin, ich schaue den Mädels beim Wasserpfeife rauchen zu und freue mich über eine frische Minzlimonade. 
Bevor ich mich auch am Dienstag meinem Referat und meinem Ostkirchen-Bericht widme, steht zunächst die Andacht auf dem Programm, die ich bereits zum fünften Mal mit Maxie zusammen halte. Wir widmen uns der Frage, was Heimat für uns bedeutet, und lassen die Anwesenden kleine Adventskalenderbriefchen schreiben, in denen sie ihren Sitznachbarn erzählen können, wo und was 'Heimat' für sie ist. Im versteckten Bibliotheks-Café in Gemmayzeh verbringen Maxie und ich den Nachmittag über unseren Laptops, bevor wir am Abend einen neuen Ort entdecken.
Gemütliches Konzert der 'Postcards'
Die Frau des Hochschulpräsidenten nimmt uns mit, auf ein kleines Konzert ihrer Tochter, die in einer alternativen Indie-Band spielt. Nichts in den Räumlichkeiten erinnert daran, dass wir uns irgendwo im Libanon befinden. Vielmehr fühlt es sich ein bisschen so an, als seien wir für einen kurzen Moment nach Deutschland zurückgekehrt.

Die ruhige Musik und die gemütliche Atmosphäre lassen mich für einige Momente Zeit und Raum vergessen. Ein zauberhafter Abend, den ich mit meinen spannenden Berichten über meine zahlreichen Bibliotheksbesuche der letzten Woche beende. Bereits übermorgen werde ich in den Flieger steigen, um mich dem deutschen Winter und der großen Wiedersehensfreude hinzugeben. Zeit für Klöße, Lebkuchen und ein paar Mortadellabrötchen! Allen Mitlesenden wünsche ich bereits jetzt ein frohes Weihnachtsfest und besinnliche Tage zwischen den Jahren. Bis auf 2017 und viele neue Geschichten aus Beirut!

Montag, 12. Dezember 2016

Warten auf ein Weihnachtswunder.


Die 99 Namen Gottes
Nachdem die vergangene Woche mit einem Ausflug ins Flüchtlingslager und einem Besuch der interreligiösen 'Adyan-Stiftung' begann, geht es am nächsten Morgen mit einem Vortrag im 'Institute for Woman's Studies in the Arab World' weiter. Bei Keksen, Tee und Taschentüchern stellt die dezent übermotiviert wirkende Leiterin das Institut vor, das es sich zum Ziel gesetzt hat, Frauen in der arabischen Welt eine Stimme zu geben. 
Am Abend steht eigentlich die finale Arabischstunde an, in der eine Abschlussklausur geschrieben wird. Da ich dank meiner Erkältung weder vorbereitet noch motiviert bin, beschließe ich auf die Prüfung zu verzichten und stattdessen mit einem Tee unter meiner Bettdecke vorlieb zu nehmen. Auch den kommenden Tag lasse ich, bis auf 2 ½ Stunden Ostkirchenseminar, vom Bett aus an mir vorüberziehen. Eine kurze Verschnaufpause, die mir zwischen all den Besuchen, Vorträgen und Gesprächen eigentlich ganz gelegen kommt.
Ornament in der Hariri-Moschee, Sidon
Nachdem wir bereits bei unserem Ausflug ins islamische Gericht Bekanntschaft mit dem Imam und Richter Sheikh Muhammad Abu Zeid gemacht haben, sollen wir in dieser Woche erneut mehrfach aufeinandertreffen. Anstelle von unserem Islam-Dozenten Dr. Ford übernimmt am nächsten Morgen der islamische Gelehrte die Unterrichtseinheit, um uns ein von ihm veröffentlichtes Werk vorzustellen, dass sich vorrangig mit der historischen Entwicklung des Jihad-Verständnisses und verschiedenen Perspektiven auf den Krieg in Syrien beschäftigt.
Blick aus der Hariri-Moschee, Sidon
Am Nachmittag verschwinden wir für einige Stunden in den Libanon vergangener Zeiten, als wir uns plötzlich im Wohnzimmer der libanesischen Autorin Emily Nasrallah wiederfinden. Eine der Frauen aus der Pastorengruppe - die für drei Monate ihr Sabbatical in Beirut macht – ist eine Freundin der Autorin, und hat die anderen Pastoren und Maxie, Lydia und in die geräumige und gemütlich warme Wohnung mitgenommen. Bei einer Tasse Tee und überkandierten Früchten, die uns von den zwei asiatischen Hausdamen serviert werden, hören wir der junggebliebenen Dame zu, die uns an ihrer Lebensgeschichte teilhaben lässt. Ihre Bücher - von denen ich bisher noch keines gelesen habe – handeln offenbar vor allem vom Leben in ihrem Heimatdorf und der Zeit des libanesischen Bürgerkrieges. Als erste Frau aus ihrem Dorf hat Emily in den 50er Jahren seinerzeit ihr Elternhaus verlassen, um in Beirut in ein anderes Leben einzutauchen. Die beeindruckende Frau erzählt mit unendlich scheinender Liebe von ihrem bereits verstorbenem Ehemann, und berichtet über die Höhen und Tiefen ihres Lebens im Libanon. Ihre leuchtenden Augen bestärken mich in meinem Vorhaben, nie aufzuhören Geschichten zu erzählen.

Besuch in der Hariri-Moschee
Glücklicherweise geht es mir am Freitag schon wieder etwas besser, sodass ich mich am Morgen gemeinsam mit Dr. Ford und den anderen Kursteilnehmern erneut auf den Weg nach Sidon machen kann, um am Freitagsgebet in der Moschee von Sheikh Muhammad teilzunehmen. Vor dem Gebet besuchen wir zunächst die pompöse Hariri-Moschee, die vom ehemaligen Premierminister Rafiq Hariri erbaut wurde. Die Räumlichkeiten bieten für unzählige Gläubige Platz. Mehrere tausend Betende nehmen dort am Freitagsgebet teil.


Freitagsgebet
Wir hingegen machen uns nach unserem Besuch auf den Weg in die Moschee von Sheikh Muhammad, und ich beobachte wenig später das Geschehen von der Frauenempore.
Nach dem Gebet werden wir mit Datteln und viel zu süßem 'Turkish Delight' herzlich willkommen geheißen, und in einem der Versammlungsräume außerdem zum Mittagessen eingeladen. Auch bei unserem zweiten Besuch in Sidon fühle ich mich in den sonnigen Straßen in der gemütlichen Hafenstadt sehr wohl. Bevor wir nach Beirut zurückkehren, steht noch ein kurzer Besuch im Seifenmuseum an, das von allen Seiten hoch gelobt wird. Tatsächlich ist die Gestaltung des Museums sehr ansprechend, wenngleich sich mein Interesse für die Entstehung der Seife in Grenzen hält. Am Abend erwartet uns an der N.E.S.T eine Gesangsstunde mit der Frau des Hochschulpräsidenten, die gleichzeitig die letzte Chorprobe vor unserem ersten offiziellen Auftritt darstellt. Einigermaßen abrupt wie überraschend wird die Probe allerdings vorzeitig abgebrochen, als es plötzlich zu einer Auseinandersetzung zwischen einem Chorteilnehmer und der Leiterin kommt. Umso gespannter blicken wir dem kommenden Tag entgegen, an dem wir uns am Nachmittag in das Dorf Dhour El Choueir begeben.
Adventssingen im Harry Potter-Outfit
Dort findet ein interkonfessionelles Adventssingen in insgesamt vier Kirchen statt. Der Abend beginnt mit einer halbstündigen Veranstaltung in der protestantischen Kirche, die vom Präsidenten unserer Hochschule geleitet wird und in der wir zu unserer aller Belustigung in bordeauxroten Roben zwei Lieder zum Besten geben. Die repräsentative Veranstaltung, die nicht nur christliche Stimmen, sondern auch einen muslimischen Chor auf dem Programm stehen hat, wird von einem christlichen Fernsehsender und einigen Politikern begleitet.
Gewappnet mit heißer Schokolade und allen warmen Kleidungsstücken, die mein Schrank so hergegeben hat, geht es direkt weiter zu den Maroniten, bei denen die Reihen deutlich besser gefüllt sind als bei uns. Außerdem statten wir auch dem griechisch-orthodoxen Männerchor einen Besuch ab, bevor wir es uns bei Crêpe und deutscher Bratwurst gut gehen lassen. In der griechisch-katholischen Kirche gibt es für uns keinen Platz mehr, weil dort eine bekannte libanesische Sängerin auftritt, die an diesem Abend alle Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Den krönenden Abschluss allerdings lassen wir uns dennoch nicht entgehen: Im Zentrum des Ortes steht ein riesiger Weihnachtsbaum aus Plastik, der mit theatralischem Operngesang und einem riesigen Feuerwerk elektrisch zum Leuchten gebracht wird. Für einige Minuten macht das Lichtermeer am Himmel die Nacht zum Tag, und lässt die Kälte der Berge für einen Moment vergessen. Der erfolgreiche Abend wird mit einem Tee im Café Prag mit Maxie und Nabil und einer extra Portion Schlaf reichlich belohnt.
Feuerwerk in Dhour El Choueir
Den dritten Advent verbringe ich an der N.E.S.T, um mich nach den vielen Besuchen wieder der Universität und einigen Erledigungen für Deutschland zu widmen. Apropos Deutschland: Im Grunde hoffe ich darauf, bereits in der kommenden Woche am Freitag in den Flieger zu steigen, um Heiligabend und den Start in das neue Jahr mit Freunden und Familie zu verbringen. Momentan ist diese Reise jedoch noch einigermaßen ungewiss, da ich bislang auf mein Visum warte. Seit über 2 ½ Monaten befindet sich mein Reisepass nun bereits auf einem Amt, das aus mir unerfindlichen Gründen noch nicht die Zeit dafür gefunden zu haben scheint, mir und meinen ausländischen Kommilitonen den entsprechenden Sticker in den Pass zu kleben. Nun bietet sich in dieser Woche die Möglichkeit, auf legalem Wege einen Aufpreis zu bezahlen, um den Prozess zu beschleunigen. Wenn alles klappt müsste das Dokument dann einen Tag vor meiner Abreise abholbereit sein. Da ich nach der ein oder anderen Erfahrung im Nahen Osten allerdings aufgehört habe, offiziellen Zeitangaben zu glauben, bleibt mir nur zu hoffen, dass ein kleines Weihnachtswunder geschieht.
Maronitischer Chor beim Adventssingen
Der Abend steht im Zeichen der armenischen Studierenden, die mit uns an der N.E.S.T leben und zu einem groß angekündigten Barbecue einladen. Die Veranstaltung erinnert mich stark an vergangene Feierlichkeiten während meines Freiwilligendienstes am Internat: Die armenischen Studentinnen haben sich hübsch gemacht, es gibt jede Menge Fleisch auf Plastiktellern und Softgetränke aus Plastikbechern. Nach dem großen Mahl gibt es laute Musik und mehr Müll als Reste. Ein Traum einer jeden – einigermaßen umweltbewussten - Durchschnittsdeutschen, die auch hier bei jedem Besuch im Supermarkt dafür belächelt wird, wenn sie mit Stoffbeutel in der Hand die Plastiktüte dankend ablehnt.
Griechisch-Orthodoxer Chor beim Adventssingen
Die neue Woche startet mit einem Ausflug in die kleine Bibliothek des Sursock-Museums, das sich in Gemmayzeh befindet. Ursprünglich bestand die Überlegung, nun endlich die Räume des deutschen Orient-Instituts zum Lernen zu nutzen – allerdings wurden wir bei unserer Ankunft bereits ein zweites Mal von einer Konferenz überrascht, wegen der die Bibliothek geschlossen blieb. Da ich einen Tag vor meiner (hoffentlich) bevorstehenden Abreise nach Berlin noch ein Referat über den muslimischen Denker Tariq Ramadan halten muss, verbringe ich fünf Stunden über einem seiner Aufsätze, der sich mit der Sharia und Muslimen in Europa befasst. Kurz vor dem Abendessen lädt die deutsche Gemeinde außerdem zu Glühwein und Stollen, um sich bei den Helfern des Weihnachtsmarktes zu bedanken. Als ich den Raum betrete, habe ich das Gefühl den Altersdurchschnitt der Veranstaltung deutlich zu senken – an diesem Abend besteht die Gemeinde in erster Linie aus einer Runde älterer Damen. In den Wochen der Vorbereitung sind uns aber auch immer wieder jüngere Mütter aus Deutschland begegnet, die aus verschiedensten Gründen im Libanon sind und ihre Zeit nicht nur den Vorbereitungen für den Basar, sondern auch der Gemeindearbeit mit Kindern widmen.

In den nächsten Tagen steht vor allem die Vorbereitung meines Referats auf dem Programm, außerdem findet am Freitag die große Weihnachtsfeier statt, für die wir seit Wochen Adventslieder einstudieren und die den Abschluss des Programms für die Pastoren darstellen wird. Für den vierten Advent planen Lydia, Maxie und ich den Besuch eines armenischen Gottesdienstes, um den letzten ausstehenden Ostkirchen-Bericht fertigzustellen, bevor ich in der kommenden Woche hoffentlich nach Deutschland fliegen kann. Während der Advent für die meisten Christen also die Zeit der Erwartung auf die Geburt Jesu und das Fest unterm Weihnachtsbaum ist – bleibt es für mich die Zeit der Erwartung auf mein Visum und die Hoffnung auf ein kleines Weihnachtswunder.

Montag, 5. Dezember 2016

Shitty Shitty!


Headquarter der armenisch-orthodoxen Kirche, Beirut
Während mich aus Deutschland nebelweiße Bilder erreichen, die gruselige Temperaturen erahnen lassen, werden wirt noch immer mit strahlendem Sonnenschein verwöhnt. Dennoch aber wird es auch hier langsam kühler, und die vergangene Woche hielt die ersten Regentage für uns bereit, die Beirut in ein graues Licht tauchten. Weil es kein vernünftiges Abflusssystem gibt, steht das Wasser auf den Straßen – und weil ich im Blick auf 300 Sonnentage in den Libanon geflogen bin, ohne an die 65 Regentage zu denken, verlasse ich das Haus zunächst ohne Regenschirm. Ein Fehler, für den ich momentan mit einer nervtötenden Erkältung bezahlen muss.
Langsam aber sicher bewegen wir uns auf die Weihnachtsferien zu – bis dahin stehen noch einige schriftliche Reflexionen, ein Referat und erste Klausurvorbereitungen auf dem Programm. In der vergangenen Woche habe ich mir neben den regulären Unterrichtseinheiten Zeit für zwei Berichte genommen, in denen ich mich mit zwei Ostkirchen-Besuchen beschäftigt habe. Am Dienstagabend verzichten Lydia, Maxie und ich auf das universitäre Abendessen, und gehen stattdessen mit Maxie's Besuch und einem libanesischen Bekannten von Lydia etwas essen. Nach einer etwas abstrusen Diskussion, in der uns unsere libanesische Begleitung versucht zu erklären, dass die arabische und die hebräische Sprache keinerlei Gemeinsamkeiten haben, sondern die hebräische Sprache vielmehr jegliche Ähnlichkeiten schlichtweg aus dem Arabischen geklaut habe, kehren wir zurück nach Hamra. Für Maxie endet der Abend bedauerlicherweise mit einem schwer verdorbenen Magen und einem Kurzbesuch im Krankenhaus.

Im Museum der Armenier
Somit fällt für sie der Ausflug in die armenische Kirche flach, der für den nächsten Tag angesetzt ist. Es wird der letzte Ausflug im Rahmen unseres Seminars über die Ostkirchen. Zunächst besuchen wir das 'Headquarter' der armenischen Kirche im Libanon, in dem wir ein Museum besuchen und uns mit einem Priester unterhalten. Da die Armenier immer wieder Verfolgungen ausgesetzt waren, die sie dazu zwangen zu fliehen, ist der Nahe Osten zu einem wichtigen Zentrum der Kirche geworden. Auch an der N.E.S.T gibt es zahlreiche Armenier, die in Beirut ausgebildet werden, weil hier armenische Traditionen in den Kirchen bestehen geblieben sind, die in Armenien durch die anti-kirchliche Prägung in der Sowjetunion verdrängt wurden.
Museum über den armenischen Genozid, Byblos





Im Anschluss machen wir uns auf den Weg nach Byblos, um dort ein erst kürzlich eröffnetes Museum zu besuchen, in dem der Genozid an den Armeniern in Texten und Bildern dokumentiert ist. Das Schicksal der Armenier erinnert mich in vielerlei Hinsicht an die jüdische Geschichte, die einige Parallelen aufzuweisen scheint. 

Auf dem Weg zum Sufi-Treffen
Es ist dunkel und verregnet, als wir in Byblos über das neu errichtete Gelände spazieren, und auch am nächsten Morgen werden wir von Donner und schweren Regenfällen geweckt. Nach einer Stunde Einführung in den Islam mache ich mich mit Lydia und einigen deutschen Pastorinnen auf den Weg zu einer spirituellen Begegnung: Auf unserem interreligiösen Ausflug in die Akkar Ebene lud eine der muslimischen Frauen dazu ein, an einem wöchentlichen Treffen zum sufistischen Gebet teilzunehmen. Unsere Straße, die auch an trockenen Tagen eine von Autos verstopfte Katastrophe ist, wurde durch den Regen zu einer einzigen Unmöglichkeit. Trotzdem beschlossen wir zunächst, uns in ein Taxi zu wagen, um dem Regen zu entkommen. Nach zwanzig Minuten im Auto, in denen wir uns vielleicht zwanzig Meter vorwärts bewegt hatten, zersprang plötzlich die hintere Fensterscheibe des Wagens und übersäte eine der Pfarrerinnen mit Glasscherben, ohne sie dabei zu verletzen. 
Der Taxifahrer, der außer sich vor Wut einem vorbeifahrenden Motorradfahrer die Schuld für die Misere gab, hatte nun jedenfalls zunächst andere Dinge zu tun, als uns weiter im Schneckentempo durch den Regen zu fahren. Da uns der Stau jede Menge Zeit geklaut hatte und die Zeit immer knapper wurde, beschlossen wir, das Verkehrschaos zu umgehen und stattdessen den Regen in Kauf zu nehmen. Trotz geliehenem Schirm landeten wir mit nassen Schuhen und Hosen ein paar Minuten zu spät bei den Frauen, dich sich zum Gebet getroffen hatten. Wir trafen auf viele bekannte Gesichter von unserem Ausflug in den Norden, und ich staunte nicht schlecht als sich herausstellte, dass eine der älteren Damen – die mich bereits bei unserem Tagestrip aufgrund ihrer faszinierenden Ausstrahlung beeindruckt hatte – die religiöse Führung des Gebets übernahm, und offenbar eine Art 'Guru-Position' innehat. Ganz in weiß gekleidet und in ein helles Kopftuch mit silberbunt leuchtenden Pailletten gehüllt, liest sie aus einem alten, zerfledderten Sufi-Buch, und teilt ihre Gedanken über den Text mit ihren Zuhörerinnen. Wir erhalten jeweils eine Übersetzung ins Englische.
Normalerweise, so wird uns erzählt, kommen um die zwanzig Frauen zum wöchentlichen Gebet. Heute sind es vielleicht acht. „Shitty, shitty“ - sagt eine Frau, die auf einem Sofa sitzt und mit ihrer Hand nach draußen zeigt. Wir lachen. „Shitty“ ist das Libanesisch-Arabische Wort für Regen, den die Frau für die Abwesenheit weiterer Teilnehmerinnen verantwortlich macht. Ein besseres Wort hätte man nicht erfinden können, um meine Gefühlslage gegenüber nasskaltem Regen und grauen Wolken treffender in Worte zu fassen. 

 
Das Gebet wird zu einer besonderen Begegnung, als die Frauen eine Sufi-Meditation durchführen, bei der auch wir aufgefordert werden, aufzustehen und mitzumachen. Die Frauen singen und trommeln, bewegen sich rhythmisch im Takt und tanzen und atmen sich langsam aber sicher in einen tranceähnlichen Zustand. Auch wenn ich mich lediglich mit den Frauen bewege, ohne den Atemrhythmus zu übernehmen, der einer Hyperventilation gleich zu kommen scheint, so ist es doch eine sehr intensive und teils befremdliche Erfahrung, derart nah am Geschehen teilzuhaben. Das Treffen endet mit Kaffee für alle und Wasserpfeife für die libanesischen Frauen, die sich über Gruppenfotos freuen, solange sie unter dem Koran und nicht der Wasserpfeife festgehalten werden.




Spaziergang durch Sidon
Am kommenden Tag bleibt mir endlich Zeit, mich an meine Texte für die Uni zu setzen, bevor wir Maxie und ich am frühen Abend in die American University gehen, um uns einen Vortrag von Patrick Cockburn, einem irischen Journalisten, über internationalen Journalismus in Syrien und im Irak anzuhören. Eine Veranstaltung, nach der sich mein Erkenntnisgewinn eher in Grenzen hält, wenngleich es immer wieder spannend ist, den leicht elitär wirkenden, politikwissenschaftlichen Nachwuchs an der American University zu beobachten. Nach dem Abendessen treffen wir uns außerdem mit Uwe Gräbe, der bei der EMS (Evangelische Mission in Solidarität, meine Entsendeorganisation) für uns zuständig ist, und für mehrere Konferenzen in den Nahen Osten gekommen ist. Bei einem Bier erzählen wir über unsere Eindrücke und Erfahrungen der ersten zwei einhalb Monate, sprechen über die Dynamik in unserer Gruppe und über theologische wie auch politische Differenzen. 


Hafen von Sidon
Am Samstag machen wir uns am Morgen auf den Weg in den Süden des Landes, um in Sidon ein islamisches Gericht zu besuchen. Wir sind mit unserem Islam-Dozenten Dr. Ford und einer libanesischen Studentin unterwegs, die sich intensiv mit islamischem Recht befasst. Wir besuchen nicht nur das Archiv des Hauses, sondern dürfen auch aktiv an den Verhandlungen teilnehmen, die uns die libanesische Studentin übersetzt. Wenngleich der Sheikh und Richter in erster Linie für finanzielle Anliegen zuständig ist, sind es häufig familiäre Angelegenheiten, die teils leise und teils lauthals vor uns verhandelt werden. 

Islamisches Gericht
Besonders emotional ist ein Fall, in dem ein Vater als Vertreter für seinen verheirateten Sohn erscheint, der seine Ehefrau offenbar geschlagen hat, die mit ihren Eltern erschienen ist. Die Frau ist mit einer Tochter schwanger, die sie offenbar selbstständig versucht hat abzutreiben, da sich der Ehemann offenbar einen Sohn wünscht, und der anwesende Vater außerdem damit droht, das Kind auch nach einer Scheidung zu sich und dem Mann holen zu wollen. Geschichten, die das Leben schreibt – und die sich selbst Fernsehrichter nicht schöner hätten ausdenken können.

Altstadt von Sidon
Gemeinsam mit dem freundlichen Sheikh spazieren wir nach den Verhandlungen durch die alten Souks der alten Stadt, die malerisch am Meer gelegen ist, und mich durch ihre alten Häuser und kleinen Gassen zu beeindrucken weiß. Nach einem überteuerten Mittagessen mit Meerblick in der Sonne kehren wir am Abend zurück nach Beirut.
Ich bin dankbar, als ich am Sonntag nach den zahlreichen Begegnungen ausschlafen kann, und verbringe den Tag vor dem Computer, um einen Bericht über meinen Gottesdienstbesuch der griechisch-orthodoxen Kirche zu schreiben.

Besuch im Flüchtlingslager
Auch die neue Woche beginnt mit einem ereignisreichen Tag, der am frühen Morgen mit einem Ausflug ins Flüchtlingslager führt. Endlich haben Maxie und ich Gelegenheit, gemeinsam mit den deutschen Pfarrern ein christliches Zentrum zu besuchen, in dem palästinensische Kinder, Jugendliche und Erwachsene gefördert und ausgebildet werden. Dort werden wir voraussichtlich ab Mitte Januar nach meiner Rückkehr aus Deutschland ehrenamtlich arbeiten.
Im Vergleich zur ersten Organisation, in der wir einige Wochen Englischnachhilfe gegeben hatten, scheint es hier wesentlich gesitteter zuzugehen. Die Kinder sitzen ruhig auf ihren Plätzen und begrüßen uns mit Liedern und strahlenden Augen. Nach einer Führung durch das Zentrum und einem langen Spaziergang durch die Tiefen des armseligen Camps vereinbaren wir einen ersten Termin, um den Ort bei einem zweiten Besuch noch besser kennenzulernen. 
Sonne und Zuckerwatte in Sidon

Mit Schnupfen und einem dicken Schädel meine ich für diesen Tag ausreichend Eindrücke gesammelt zu haben. Allerdings ist für den Nachmittag und frühen Abend ein weiterer Termin angekündigt, der uns in das Haus der 'Adyan'-Stiftung führt. Trotz Müdigkeit und Schnupfnase bereue ich es keine Sekunde, mich an diesem Tag ein zweites Mal aus dem Haus bewegt zu haben: Die interreligiöse Organisation, die sich Pluralismus und die Förderung eines guten Zusammenlebens auf die Fahnen geschrieben hat, entspricht auf den ersten Blick allen Kriterien eines für mich passend erscheinenden Arbeitgebers: Der Stiftung scheint es zu gelingen, akademisch religionswissenschaftliche Arbeit mit politisch-gesellschaftlichen Themen zu verknüpfen und dabei die spirituelle Ebene nicht außer Acht zu lassen. 

Kreuzfahrerburg in Sidon


Die Lebensgeschichte der Mitgründerin, mit der wir zum Gespräch an einen Tisch gekommen sind, erinnert mich in vielerlei Hinsicht an meine eigene. Die sympathische Muslima ist in einem religiös gemischten Umfeld aufgewachsen, hat eine christliche Schulbildung genossen und studierte später Religionswissenschaft, bevor sie 2006 mit anderen Christen und Muslimen die Stiftung gründete. Das Treffen mit ihr und dem Leiter der Organisation war bisher definitiv ein Highlight unter unseren zahlreichen Begegnungen. 

Mittagessen mit Meerblick in Sidon
Maxie, Lydia und ich sind von der Organisation sehr angetan, und hoffen, auch in Zukunft erneut ins Gespräch kommen zu können.
Mit Norah Jones und einer Packung Taschentücher nutze ich nun die Abendstunden, um die Erlebnisse der letzten Tage mit euch zu teilen und merke dabei, wie sich die Ereignisse überschlagen und wie viele Bilder und Eindrücke in der kurzen Zeit seit Jans Abreise auf mich eingerieselt sind.
Auch die folgenden Tage könnten kaum vollgestopfter sein. Allerdings erwäge ich, die ein oder andere Begegnung ausfallen zu lassen, um mit viel Tee und Schlaf erst Mal wieder fit zu werden, bevor die bunten und dunklen Eindrücke auf mich einprasseln werden, wie dicke, fette Regentropfen.