Prokrastination ohne Youtube |
Die vierte Woche in
Beirut hält einen neuen Stapel Texte und eine Deadline für uns
bereit. Uns bleiben nur wenige Tage, um ein Essay im Rahmen der
Einführung in den Islam fertigzustellen. Die kurze Analyse
beschäftigt sich mit der Frage, in welchem Verhältnis Christen zum
Prophetentum Muhammads stehen. Obwohl ich mich in meiner
Religionswissenschaftlerinnen-Ehre (falls es sowas geben sollte)
teilweise dezent angegriffen fühle, als uns zur Lektüre Texte
gegeben werden, die aus einer deutlich christlichen und teils
semi-akademischen Perspektive geschrieben sind, kommt es durch die
herausfordernden Artikel zu spannenden Diskussionen unter den
Kommilitonen, die mich zum Schreiben, Nachdenken und Aufregen
anregen. Ich bin sehr gespannt, wie unser Dozent auf meine
Ausführungen reagieren wird, und hoffe auf eine angeregte Diskussion
im Klassenraum.
Nachdem Maxie, Lydia und
ich bereits in der vorigen Woche an einigen Ausflügen des 'al-sharq'
Netzwerkes teilnehmen durften, begleiteten wir die Reisegruppe ein
letztes Mal in die Heinrich-Böll Stiftung. Dort berichtete die
Leiterin, Frau Dr. Bente Scheller, über die politische Lage des
Landes seit Beginn der syrischen Flüchtlingskrise. Während wir in
Deutschland mit einer Million Geflüchteten bereits maßlos
überfordert scheinen, leben im Libanon zwischen 1-2 Millionen Syrer
(mit genauen Zahlen hat es in diesem Land keiner so richtig..), bei
etwa 4 Millionen Libanesen, etwa einer halben Million Palästinensern
und einem Land, das etwa halb so groß wie Hessen ist. Dass diese
Umstände nicht spurlos an der Bevölkerung vorbeigehen, liegt
vermutlich auf der Hand. Umso spannender war es, einen fundierten und
ortskundigen Überblick vermittelt zu bekommen, um die komplexen
Verstrickungen langsam zu entwirren und Stück für Stück etwas
besser zu begreifen.
Ausflug nach Gemmayzeh |
Auf der Rückfahrt machen
Maxie und ich einen kurzen Abstecher bei Virgin Records, dem wohl
größten Musik- und Elektronikanbieter der Stadt. Es gibt nur eine
Künstlerin, von der ich alle CDs besitze, und jene hat Anfang
Oktober ein neues Album veröffentlicht: Norah Jones. Hoffnungsvoll
folge ich der Aufforderung des Security-Manns am Eingang und
überlasse ihm meine Handtasche (warum auch immer), bevor ich mich
auf die Suche nach dem Album begebe. Bis auf etwa sechs Mitarbeiter
ist der Laden leer. Kunden sucht man hier vergeblich. Ein Phänomen,
das immer wieder ins Auge sticht: Ein völlig disproportionales
Mitarbeiteraufkommen gemessen an der ausbleibenden Kundschaft. Selten
steigern die zahlreichen Arbeitskräfte die Effektivität. Meist
stehen sie sich augenscheinlich im Weg. Der große und moderne Laden
wirkt, als sei in ihm etwa 2008 die Zeit stehen geblieben. Alles
glänzt, doch das musikalische Angebot ist völlig veraltet. Das neue
Album von Norah suche ich hier vergebens. Stattdessen sticht Maxie
und mir in der Elektronikabteilung ein günstiger Scanner ins Auge.
Seit wir bei unserem Copyshop-Fiasko zunächst 32 Euro für
lächerliche 60 Seiten zahlten (von denen wir nach längerer Debatte
zum Glück die Hälfte erstattet bekamen), und weil in der Uni die
Scan-Funktion des Kopierers einfach nie funktioniert, beschlossen wir
kurzerhand, das Gerät mitzunehmen. Unser Verkäufer war
augenscheinlich etwas überfordert mit der Tatsache, dass tatsächlich
endlich jemand etwas kaufen wollte. Überrascht stellte er fest, dass
der Artikel nicht mehr im Sortiment vorhanden war, und packte uns
kurzerhand das Ausstellungsmodell in einen Karton. Es wäre
vermutlich zu einfach gewesen, hätte unsere Scanner-Geschichte an
dieser Stelle ein Happy End gefunden. Stattdessen stellten wir beim
Auspacken fest, dass der Verkäufer offenbar vergessen hatte, das
Verbindungskabel zwischen Scanner und PC mit in den Karton zu legen.
Ein Grund, wenige Tage später erneut in den Laden zu spazieren.
Zunächst aber war es für
mich und Maxie an der Zeit, eine erste Andacht an der N.E.S.T zu
halten. Die tägliche Zusammenkunft zum kurzen Innehalten ist ein
fester Bestandteil des Alltags an der Hochschule. Jede und Jeder ist
angehalten, etwa ein Mal im Monat selbst eine Andacht zu gestalten.
Mittwochs liegt der Schwerpunkt meist auf Liedern und weniger auf
Texten, und weil unsere Andacht auf einen Mittwoch fällt, bestehen
auch unsere 20 Minuten zum Großteil aus Musik und Gesang. Obwohl ich
jener neuen Verpflichtung zunächst skeptisch entgegenblickte,
macht es letztlich viel Spaß, selbst entscheiden zu dürfen, mit
welchen Inhalten wir die Zeit füllen möchten.
Nach einer Uni-intensiven
Woche und der Fertigstellung des Textes über Muhammad wird es Zeit,
für einen Abend außerhalb von Hamra. Zunächst aber begeben wir uns
erneut in den Virgin Store, um darüber in Kenntnis gesetzt zu
werden, dass das fehlende Verbindungskabel nicht zum Standardpaket
dazugehört. Einigermaßen irritiert versuche ich herauszufinden, wie
sich erklären lässt, dass Drucker und Scanner standardmäßig ohne
das entscheidende Kabel verkauft werden, mit dem sich das Gerät erst
benutzen lässt. Eine überzeugende Antwort auf diese Frage hat unser
Verkäufer leider nicht, dafür aber ein extra abgepacktes Kabel, für
weitere acht Dollar... Nach einer längeren Odyssee ist es uns nun
also endlich möglich, Dateien zu scannen und bei Bedarf auch zu
drucken. Weil sich im selben Geschäft auch eine Konzertkasse
befindet, werde ich immerhin zufällig darauf aufmerksam, dass Mitte
November die marokkanische Band Hindi Zahra ein Konzert in Beirut
geben wird! Eine Veranstaltung, die ich mir nicht entgehen lassen
kann. Die zauberhafte Musik und die eingängige Stimme der Sängerin
haben mich in den letzten Jahren immer wieder beglückt und
begleitet.
Geschichtenabend in Gemmayzeh |
Nach unserem Kabelkauf
verbringen wir den Abend im angesagten Gemmayzeh in einem Café, in
dem Geschichtenerzähler angehalten sind, ihre Anekdoten mit dem
Publikum zu teilen. Einige erzählen auf Arabisch, andere auf
Englisch. In dem großen Laden trifft sich offenkundig die
intellektuelle Elite und die Studierendenschaft der American
University. Wir lachen über einen Ankunftsbericht eines
amerikanischen Studenten, und staunen nicht schlecht, als wir bei
einer arabischsprachigen Geschichte immerhin einigermaßen viele
Vokabeln wiedererkennen.
Am kommenden Morgen mache
ich mich ein zweites Mal mit Maxie auf den Weg ins Flüchtlingslager,
um mit ihr Englisch zu unterrichten. Während die etwa fünfzehn
Schüler in der vergangenen Woche beim ersten Aufeinandertreffen
erstaunlich lieb und brav erschienen, ist das Eis in der zweiten
Stunde augenscheinlich gebrochen. Den Kindern bereitet es große
Freude, uns wie wild auf der Nase herumzutanzen. Ein Junge versteckt
sich hinter der Tafel, ein Mädchen unter einem Plakat, ein anderes
Kind wirft einen Tisch um und die Packung Druckerpapier, die wir für
Schreibübungen mitgebracht haben, scheint wie von Zauberhand immer
leerer zu werden. Als die ersten Papierbälle fliegen, ist das Chaos
endgültig ausgebrochen. Während Maxie und ich mit unseren drei
Brocken Arabisch versuchen, einigermaßen für Ruhe zu sorgen, ist es
den Kindern ganz offensichtlich ein großer Spaß, unsere Grenzen
auszutesten. Weil wir freiwillig und ohne bindende Verpflichtungen im
Klassenraum stehen, können wir die mittelschwere Katastrophe gut
verkraften und hoffen, in der nächsten Woche mit konsequentem
Frontalunterricht wieder mehr Aufmerksamkeit zu bekommen. Da es für
die palästinensischen Kinder keine normalen Schulen gibt, ist die
Einrichtung in der wir unterrichten in erster Linie ein Zufluchtsort
für die Kinder, an dem sie von der Straße fernbleiben und ihre Zeit
einigermaßen sinnvoll verbringen können. Ohne jede Aussicht auf
eine vielversprechende Zukunft fehlt es den Kindern an jeglicher
Perspektive. Zwei Mädchen, die uns noch wenig zuvor ordentlich an
der Nase herumgeführt haben, bringen uns nach der lauten Stunde zwei
Gläser Wasser und grinsen uns mit unschuldigen Augen an. Es fällt
schwer, ihnen wirklich böse zu sein. Den Abend lassen wir mit unseren
männlichen deutschen Kommilitonen und Salam, einer syrischen
Studentin der N.E.S.T, bei einem Bier in Hamra ausklingen.
Blick auf Byblos |
Am kommenden Tag steht
unser erster selbst organisierter Ausflug auf dem Programm: Lydia,
Maxie und ich fahren mit öffentlichen Bussen nach Byblos, einer der
am längsten besiedelten Orte der Welt. Dort begeben wir uns nicht
nur auf die Spuren der Kreuzfahrer, sondern können auch an einem
zauberhaften Sandstrand Ende Oktober im Mittelmeer baden. Die
malerische kleine Stadt scheint ein Anziehungspunkt für libanesische
Touristen, die zwischen Restaurants und Basar den Alltag vergessen
können. Die Stadt fühlt sich ein bisschen an, wie ein
orientalisches Ostseebad: Hier gibt es Meer, Souvenier- und
Postkartenstände und jede Menge Essen. Es tut gut, die Aussicht auf
die Steinwüste Beiruts für einige Stunden hinter sich zu lassen,
und gegen das Meer und antike Gebäude auszutauschen.
Herbst in Byblos |
Die Busfahrten sind nach
wie vor ein kleines Abenteuer. Wenngleich die Busfahrer und auch die
meisten Passagiere äußerst höflich sind, fühle ich mich trotzdem
am wohlsten, wenn Maxie oder Lydia neben mir sitzen, und ich mich vor
ungewollten Berührungen sicher fühlen kann. Männliche Blicke und
Kommentare fallen im Großen und Ganzen wesentlich zurückhaltender
aus, als ich erwartet hätte – und doch fällt das offensichtliche
Nähebedürfnis einiger Männer gerade in den Bussen hin und wieder
unangenehm auf.
Zu viel Worship gehört in den letzten Wochen.. |
Am Sonntag widme ich mich
wieder der Uni und der ausstehenden Lektüre, und spaziere am Abend
mit Maxie zum ersten Mal zu den Taubenfelsen, eine der bekannten
Sehenswürdigkeiten der Stadt. Während wir den malerischen
Sonnenuntergang bewundern stellen wir wieder ein Mal fest, dass sich
der nicht-arabischsprachige Tourismus äußerst in Grenzen hält.
Jeder „westlich“ erscheinende Tourist fällt uns sofort auf.
Taubenfelsen in Beirut |
Die neue Woche beginnt
mit einem morgendlichen Besuch in Gemmayzeh bei dem Maxie und ich
feststellen müssen, dass die nachts so lebendige Gegend am Morgen
ausgestorben zu sein scheint. Nach einem langen Spaziergang landen
wir im 'Saifi Village', einer kleinen touristischen Oase, die ein
Hostel, eine Sprachschule und ein nettes Restaurant beherbergt.
Unseren Ausflug nutzen wir sogleich, um die Konditionen der
Sprachschule zu erfragen. Voraussichtlich werden wir ab kommender
Woche dort Arabisch lernen, um zwei Stunden mehr pro Woche zu nehmen,
und gleichzeitig eine neue Lehrerin zu 'testen'. Am Abend machen
Lydia, Maxie und ich es uns auf dem Balkon gemütlich, um eine
Dokumentation über die syrischen Geflüchteten im Libanon anzusehen,
die von der Heinrich-Böll Stiftung finanziert und uns bei unserem
Besuch mitgegeben wurde.
Baden im Oktober |
Die Kommentare der
bedürftigen und armen libanesischen Bevölkerungsgruppe im Film
lassen Wut, Unzufriedenheit und Ängste laut werden. Auch bei
einem Tischgespräch beim Mittagessen mit einigen Studierenden der
N.E.S.T wird deutlich, dass die Flüchtlingskrise zu großen
Kontroversen und Herausforderungen führt.
Heute war ich am
Nachmittag zum ersten Mal mit Maxie beim Sport. Kürzlich wurden wir
darauf aufmerksam, dass eine dänische NGO ein wöchentliches Workout
im Park anbietet, das sich lediglich an Frauen richtet. Gedacht ist
das Angebot in erster Linie für Frauen und Mädchen, die sich das
überteuerte Sportangebot Beiruts nicht leisten können. Aber auch wir sind
herzlich eingeladen und rennen Parcours über den vom Krieg
gezeichneten „Park“, der eher gelb als grün leuchtet. Das
Gelände ist voller kaputter Gegenstände, die sich bestens zum
Klettern und Springen eignen. Neben dem Park befindet sich eine
weitere riesige Parkanlage, die bis vor einem Jahr aus politischen
Gründen für über 20 Jahre geschlossen war, und durch einen Zaun
von der anderen Anlage getrennt ist. Als unwissende Neuankömmlinge
spazieren Maxie und ich natürlich zunächst in den riesigen Park,
vorbei an Soldaten, die das Gebiet bewachen. Wenig später stehen wir
vor dem riesigen Zaun – dahinter steht unsere dänische Trainerin
mit zwei weiteren Mädchen. Wir lassen uns von ihr sagen, dass es nur
zwei Wege gibt, auf die andere Seite zu gelangen: Entweder, wir
laufen den gesamten Weg durch den riesigen Park zurück und dann ein
Mal um das gesamte Gelände, oder – wir klettern über den Zaun.
Wenig später hängt
Maxie auf dem Zaun, als plötzlich ein Wachmeister angelaufen kommt,
der überraschenderweise nicht schimpft, sondern stattdessen seine
Hilfe anbietet. Auch als sich einige Jungs um uns scharen, um die
weibliche Gruppe beim Sport machen zu beobachten, kommen nach einer
Weile die freundlichen Guards, um die jungen Männer zu vertreiben.
Eine der Ideen der NGO ist es, den Frauen eine sichere Umgebung zu
bieten, in der sie ohne Geld und ohne Männer Sport machen können.
Women Empowerment scheint das Stichwort. Tatsächlich begegnen uns
viele freundliche und doch überraschte Gesichter, als wir bei
unserem Parcours-Rennen an Basketball- und Tennisfeldern
vorbeirennen, und nahezu nur männliche Sportler passieren. Womöglich
tut sich mit dem Angebot der NGO eine Möglichkeit auf, die völlig
überteuerten Fitnessstudios der Stadt zu meiden und dennoch aktiv zu
bleiben.
Sonnenuntergang in Byblos |
Die Woche hält noch
einiges bereit: Morgen steht ein Hip-Hop-Abend im Zeichen des
Battleraps auf dem Programm. Am Donnerstag halten Maxie und ich
bereits die nächste Andacht, und am Freitag fahren wir mit der
gesamten Belegschaft der Uni auf das sogenannte „Fall Retreat“ -
ein Community-Wochenende, das Gelegenheit zum besseren Kennenlernen
bieten soll. Ich freue mich auf drei Tage außerhalb der N.E.S.T und
bin gespannt, was ich beim Nächsten Mal von unserem Ausflug zu
berichten haben werde.
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