Dienstag, 28. Februar 2017

Viele große Monster und eine kleine Krabbe.


Sonniger Blick von meinem Balkon
Ein weißgrauer Schleier verdeckt den Himmel über Beirut und es ist ein bisschen schwül, als mich zauberhafte Neuigkeiten aus Berlin erreichen: Ine, meine langjährige Wegbegleiterin und enge Freundin ist Mutter geworden. Die kleine Krabbe – so unser Arbeitstitel der letzten Wochen – heißt jetzt Lars und schmunzelt müde auf dem Foto, das mich am Morgen erreicht hat. Ich freue mich sehr, im Laufe der letzten Monaten nun bereits zum zweiten Mal gefühlt Tante zu werden, und bin schon sehr gespannt, ihn im Sommer kennenzulernen.
Am vergangenen Donnerstag feierten die Armenier ihren Heiligen St. Vartan, weshalb sowohl unsere, als auch die armenische Haigazian-Universität geschlossen blieben. Kein Grund jedoch, auf den zweistündigen Arabischunterricht und eine weitere Sitzung an der Amerikanischen Universität zu verzichten. Am Abend ging außerdem unser Theaterworkshop mit Atemübungen und viel bewusster Bewegung in eine zweite Runde.
Das Wochenende wird mit einer weiteren Stunde Gesang und Geschrei im palästinensischen Flüchtlingslager eingeleitet. Dieses Mal begleitet uns Sophia, eine schwedische Kommilitonin, die einen Newsletter über die Aktivitäten des christlichen Zentrums schreiben soll. Ungünstigerweise ist die Leiterin des Hauses trotz Verabredung nicht anwesend, und so kommt es, dass wir an diesem Freitag eine weitere Teilnehmerin in unserem Klassenzimmer begrüßen. Mittlerweile haben die Kinder klare Song-Favoriten, wenngleich die Lieder zum Muttertag noch immer im Vordergrund stehen. Um nicht dreißig Minuten lang die gleichen drei Zeilen zu singen, wechseln wir die Muttertagsmelodien mit Liedern über eine Busfahrt, fünf Affen und den Körperteilen auf Englisch ab.
Dass auch mein eigener Körper momentan wieder nach mehr Aufmerksam ruft, wird mir im Laufe des Tages deutlich. Ich versuche, mit einigen Yogaübungen und etwas Sport auf nicht enden wollende Schmerzen zu reagieren – beschließe aber dennoch, einige Tage später einen Termin beim Arzt zu vereinbaren. Wenngleich ich über jeden Moment in diesem Land sehr dankbar bin, wird mir dennoch langsam bewusst, dass es Zeit wird einen Ort zu finden, an dem ich mich für einen längeren Zeitraum niederlassen kann, um meine körperlichen Beschwerden ernsthaft anzugehen anstatt sie länger zu vernachlässigen.
Wie im Vorhinein geplant und angekündigt, steht am kommenden Nachmittag ein Besuch einiger muslimischer Studenten auf dem Plan, die uns an der Hochschule besuchen. Die Gruppe ist Teil der Adyan-Stiftung, die sich für interreligiösen Dialog im Libanon einsetzt. Bereits beim gemeinsamen Mittagessen kommen wir mit einigen Studentinnen ins Gespräch, das wenig später in aller Ausführlichkeit bei Kaffee und Keksen fortgesetzt wird. Ich bin beeindruckt und auch einigermaßen erstaunt, von einem hohen Maß an Offenheit und Selbstkritik, das zu spannenden Diskussionen führt. Dankenswerterweise schlägt Lydia vor, die Gespräche in eine weitere Runde gehen zu lassen, und so hoffe ich sehr, dass wir uns in Kürze erneut mit einigen Teilnehmern treffen werden.
Den Abend lassen Maxie, Mark, Jad und ich mit karamellisiertem Popcorn und dem Film „Manchester by the Sea“ im Kino ausklingen. Ein ruhiger Film mit einer traurigen Geschichte, der mich dank unaufgeregter Alltagskomik trotzdem immer wieder zum Lachen bringt. Wenig später beschließen Mark und Jad außerdem, Maxie und mich auf eine Überraschungsrunde in einer nahe gelegenen Spielhölle einzuladen. Meine Begeisterung hält sich zunächst in Grenzen, bis wir in einen kinoähnlichen Saal geführt werden, der eine Leinwand und Sitze mit Anschnallgurten für uns bereit hält. Angeschnallt und mit aufgesetzten 3D Brillen geht es los: Eine Welt voller Monster eröffnet sich uns auf dem Bildschirm, die mithilfe von Laserpistolen abgeschossen werden müssen. Aus 3D wird schnell 4D, als sich unsere Sitze passend zur Handlung bewegen, und den Eindruck erwecken, wir befänden uns inmitten der Szenerie. Wenn es etwas gibt, worin ich wahrlich nicht geübt bin, dann sind es Videospiele – und so verliere ich wenig überraschend Runde für Runde, während ich gegen Werwölfe und Monster kämpfe. Zwischenzeitlich fällt kurzerhand der Strom aus, weshalb wir ein weiters Spiel aufs Haus spendiert bekommen. Ein aufregendes Ende eines gelungenen Tages.
Der nächste Nachmittag steht im Zeichen der protestantischen Kirche von Syrien und Libanon, die an diesem Sonntag die erste Ordination einer Frau zelebriert. Rola Sleiman hat 1997 ihr Studium an der N.E.S.T abgeschlossen, und seither in einer Gemeinde in Tripoli gearbeitet. Zwanzig Jahre später erhält sie nun endlich das Recht und die Möglichkeit, als 'vollwertige' Pastorin arbeiten zu dürfen. Ein großer Tag, der mit einer kitschigen Torte, dröhnendem Feuerwerk und einem fantastischen Büffet gefeiert wird.
Die neue Woche startet mit einem Besuch im Orientinstitut, weil wir bis zum Ende der Woche eine kurze Evaluation unseres Zusammentreffen mit den muslimischen Studierenden verfassen müssen. Also schreibe ich, und lade währenddessen einige Rapperinterviews herunter. Wer sich auch nur im entferntesten für diese Form der Unterhaltung begeistern kann, sollte sich übrigens das ein oder andere Interview mit MC Bogy auf dem Youtube-Channel 'TV Strassensound' unter keinen Umständen entgehen lassen. Es ist mir jedes Mal aufs Neue eine große Freude.
Nur noch zwei Sitzungen trennen mich von der nächsten Klausur, und so werde ich mich in dieser Woche vermutlich vor allem den muslimisch-christlichen Beziehungen in vergangenen Zeiten widmen. Außerdem wird in unserem Ethik-Kurs eine schriftliche Auseinandersetzung mit einer libanesischen NGO gefordert, die ein Interview mit einem Vertreter der jeweiligen Einrichtung beinhalten soll. Momentan spiele ich mit dem Gedanken, mich mit den „Fighters for peace“ zu befassen, die an einer Aufarbeitung des libanesischen Bürgerkrieges mit Hilfe von persönlichen Zeitzeugenberichten arbeiten.
Langsam scheint sich der Frühling auf den Straßen von Beirut seinen Platz zu verschaffen. Der Regen wird weniger, die Temperaturen steigen. Ich hoffe, dass geschlossene Schuhe und leichte Winterjacken in Kürze zu Kleiderschrankrelikten verkommen werden. Mit Beginn der Fastenzeit steigt langsam die Vorfreude auf Ostern und den bevorstehenden Besuch aus Deutschland.
Zeit, sich ein wenig Gedanken über mögliche Reiseziele und Übernachtungsorte zu machen, um während der Osterferien möglichst viele Ecken des Landes besichtigen zu können. Bis dahin aber bestimmt der libanesische Alltag die Zeit, die hier wie im Flug zu vergehen scheint.

Mittwoch, 22. Februar 2017

They see me rollin':
Zwischen Waschmittelduft und Sightseeing auf Rädern.

Der staatlich verordnete Gedenktag für den ehemaligen Premierminister Hariri beschert uns einen unifreien Valentinstag. Mark – der maronitische Pilot mit St. Charbel-Faible – lädt Maxie und mich auf einen Ausflug in den Süden ein. Gemeinsam mit einem weiteren Pilotenfreund machen wir uns am frühen Vormittag auf den Weg. Vorbei an Bergen und Checkpoints fahren wir durch das bewölkte Land, um wenig später einen kurzen Halt im Ferienhaus des Freundes einzulegen.
Maxie im Wunderland

Immer wieder sticht mir bei Hausbesuchen der libanesische Einrichtungsstil ins Auge: Auch im Süden stoße ich auf einen Hauch von Kitsch, gepaart mit altmodischen Möbeln und mindestens einer Tüte zu viel Dekorationsartikeln. Aber Schönheit liegt bekanntermaßen im Auge des Betrachters. Nach einer kurzen Pause verlassen wir das Haus, das die Familie lediglich als Wochenend- und Ferienresidenz nutzt. Wir fahren weiter und verfolgen den Plan, wenig später die südliche Landesgrenze zu erreichen. Da unser Fahrer allerdings unter Zeitdruck steht, schaffen wir es nur bis nach Nabatiye. Unser Ausflug erinnert mich an einen Trip durch den Great-Smoky-Mountains-Nationalpark in den U.S.A, den ich trotz atemberaubender Natur zum Großteil im Auto verbrachte. Zeitdruck und eine Prise Planlosigkeit führen dazu, dass wir auch auf dieser Reise die meiste Zeit auf vier Rädern unterwegs sind. Wir verschaffen uns einen ersten Eindruck von Nabatiye aus den Fenstern des Wagens, und fahren wenig später nach Tyros, um an der Küste zu spazieren und Mittag zu essen.
Tyros
Als wir auf dem Rückweg an einem orientalischen Süßigkeitengeschäft halten, werden Maxie und ich erneut Zeuginnen der libanesischen Gastfreundschaft. Ahmed, der Pilotenfreund, beschließt kurzerhand uns ein ganzes Kilogramm süßes Gebäck zu schenken. Als wir versuchen, ihm Geld zurückzugeben, lehnt er es vehement ab. Dankbar und ein Kilo Süßigkeiten reicher kehren wir am Abend wieder an die N.E.S.T zurück.
Am nächsten Morgen steht nach langer Pause eine weitere Andacht an, die ich gemeinsam mit Maxie vorbereitet habe. Weil Mittwochs meist weniger gepredigt und mehr gesungen wird, stehen die zwanzig Minuten im Zeichen der Musik.
Den Rest des Tages verbringe ich in der Bibliothek, um damit zu beginnen, meine Buchrezension zu schreiben. 
Libanesische Kabelbruchlösungen
Weil mein Netzkabel spontan beschloss durchzubrechen, bin ich für eine Weile auf einen anderen Computer angewiesen und somit an die vier Wände der Hochschule gebunden. Weil 125 Dollar für ein neues Kabel 125 Dollar zu viel sind, liegt die beschädigte Stromzufuhr bei Toni, den ich darum gebeten habe eine Lösung zu finden. Toni, das ist der Besitzer des kleinen Elektroladens, der sich gleich um die Ecke befindet. Als das reparierte Stück am Abend zur Abholung bereits steht, erzählt mir der Verkäufer den ein oder anderen Schwank aus seinem Leben. Er berichtet von seiner Ehe mit einer Frau aus Hamburg Ende der 70er, schwärmt von einer Kirche irgendwo in der Nähe von Köln und schimpft über den Verfall der libanesischen Währung. Nach einem kurzen Exkurs über die Gemeinsamkeiten von Kölsch und dem libanesischen Bier Almaza verabschieden wir uns mit einem 'Tschüss'.
Neben den üblichen Seminaren und dem wöchentlichen Besuch im Flüchtlingslager stand in der letzten Woche die Arbeit an der Buchzusammenfassung im Vordergrund. Gestern Abend habe ich das zehnseitige Dokument erfolgreich abgeschickt und somit immerhin die erste schriftliche Aufgabenstellung des Sommersemesters hinter mir.
Nachdem es im vergangenen Semester wöchentlich die Möglichkeit gab, in der 'Art Lounge' zu basteln und zu malen, wird nun ein neues Programm an der Hochschule geboten: Jeden Donnerstag gibt es seit letzter Woche die Möglichkeit, im Drama Workshop die Grundlagen und Möglichkeiten des Theaters kennenzulernen. Im Vordergrund stehen keine großen Stücke, sondern eher kurze Sequenzen, Sprechtechnik und Körpergefühl. Im überdimensionierten Auditorium, das viel zu selten genutzt wird, setzen wir uns in der ersten Woche mit Bewegung und unserer Position auf der Bühne auseinander. Eine gute Gelegenheit, auch ohne die sich wiederholenden Gespräche am Abendbrottisch miteinander in Kontakt zu kommen – Ich bin gespannt auf die kommenden Sitzungen in den nächsten Wochen.
Zeit für neue Post! 
Auch am Wochenende verbringe ich einen Großteil meiner Zeit in Cafés und Bibliotheken, am Samstagabend aber machen es sich Maxie und ich bereits zum dritten Mal mit Harry Potter und Mikrowellenpopcorn gemütlich, um den zweiten Teil der Filmreihe anzusehen. Bei einem kleinen Shoppingausflug durch Hamra bin ich nicht nur bei einem American-Eagle-Einkauf endlich erfolgreich, sondern entdecke auch die Möglichkeiten einer kleinen Parfümerie, in der man sich seinen eigenen Duft zusammenstellen kann. Neugierig und etwas zurückhaltend betreten Maxie und ich den Laden, in dem zahlreiche leere Flacons ausgestellt werden. Maxie erklärt dem syrischen Verkäufer, dass wir uns auf der Suche nach einem Waschmittelduft befinden – bevor uns der freundliche Mann wenige Sekunden später einen goldene Flasche öffnet, und strahlend zum Geruchstest einlädt. Sein erster Griff ins Regal war ein ziemlicher Volltreffer – uns zieht ein Duft in die Nase, der tatsächlich an ein starkes Waschmittel erinnert. Womöglich gar ein bisschen zu stark, und eine Prise zu zitruslastig. Also testen wir uns von Flasche zu Flasche, bis sich jede von uns eine eigene Kombination zusammenstellt und für wenig Geld als Duftöl-Roller mit nach Hause nimmt.
Der Geruch von frischer Wäsche
aus dem Duftroller
Eine kleine Entdeckung in einer der Nebenstraßen unseres lauten Viertels.
Die neue Woche beginnt mit den üblichen Kursen und einem Erdbeermarmeladencrêpe mit einer Kaffeebekanntschaft von Maxie.
Am kommenden Wochenende steht im Rahmen des Kurses zum Thema der muslimisch-christlichen Beziehungen ein Treffen mit muslimischen Studierenden auf dem Plan. Außerdem werden wir gemeinsam mit der Hochschule nach Tripoli fahren, um an einem Gottesdienst teilzunehmen, in dem die erste Frau in der protestantischen Kirche des Nahen Ostens offiziell ordiniert wird.
Ob ich eines Tages ebenfalls ordiniert werde, bleibt nach wie vor offen. Toni, der Verkäufer im Elektroladen, konnte sich das nicht so recht vorstellen. „Darfst du dann mal heiraten?“, fragt er mich. Ich nicke. Als er erfährt, dass mein Vater ebenfalls Pfarrer ist, und nach seiner  Ehe zwischenzeitlich eine andere Frau hatte, ist Toni erstaunt. „Was für ein unartiger Pfarrer!“, sagt er und grinst schelmisch. „Well.. Welcome to Protestantism“, antworte ich und blicke auf die vielen kleinen Heiligenbildchen, die sich in seinem vollgestopften Laden befinden.
Wohin mich mein Weg letztlich führt, bleibt offen. Eine Option hat sich im Laufe des heutigen Tages jedenfalls aus der Liste der Möglichkeiten eliminiert: Das Volontariat beim NDR, für das ich mich vor einigen Monaten beworben habe, kommt nach einer Absage, die bereits vor einem Monat fälschlicherweise im Spam-Ordner landete, nicht länger in Frage.
Vielleicht werde ich mich trotzdem in den hohen Norden aufmachen, um dort mein Studium fortzuführen und näher bei Jan zu sein. Oder aber es ergibt sich ein Grund und eine Möglichkeit, in meine kleine Wohnung nach Berlin zurückzukehren. Es bleibt spannend.

PS: Maxie hat in Kooperation mit der ARD eine Kurzdoku über ihr Auslandsstudium gedreht. Wer den Link noch nicht via Facebook erhalten hat, findet das Projekt hier (7 Sekunden Stobbi inklusive).

[Musikalische Titelerläuterungen]: 


Montag, 13. Februar 2017

Charbels wissen wer der Babo ist.




Ein sonniger Tag im Zentrum der Stadt
Die zweite Februarwoche und das neue Semester beginnen mit einem Stuhlkreis und einer lebendigen Diskussion. Gemeinsam mit unserer Dozentin Dr. Rima werden wir in den kommenden Monaten über ethische Grundfragen und theologische Ansatzpunkte diskutieren. Während das Ostkirchen-Seminar im vergangenen Semester einer Vorlesung glich, in der wir primär anwesend waren um den Ausführungen unserer Dozentin zu lauschen, sollen in diesem Seminar unsere Meinungen und ein reger Gedankenaustausch im Vordergrund stehen.
Im Anschluss erwartet uns ein Einführungsseminar in die Geschichte der muslimisch-christlichen Beziehungen, das von Islam-Dozent Dr. Ford vermittelt wird.
Nach über vier Monaten im Land hat sich ein Hauch von Routine in den Studienalltag geschlichen. Ich habe Orte gefunden, an denen ich meine Studienlektüre mit einer frischen Minzlimonade genießen kann, und die mir ein zweites Wohnzimmer geworden sind. Wenn ich einigermaßen zuverlässiges Internet benötige, lohnt ein Ausflug ins Orient-Institut.
Apple Crumble, Cappuccino und Lektüre
Da Maxie und ich für den Muttertag mit den Kindern im Flüchtlingslager noch einige Lieder benötige, spaziere ich am Montagmittag in die deutsche Bibliothek, um mit Hilfe von Google und Youtube passende Texte und Melodien herauszusuchen. Außerdem genehmige ich mir ein paar deutsche Polit-Talkshows, für die mir an der Hochschule nicht genug Internet zur Verfügung steht.
Am Abend spazieren Maxie, Lydia und ich in die neue Sprachschule, in der unsere bereits dritte Lehrerin auf uns wartet. Im Gegensatz zu den Unterrichtseinheiten bei den anderen Dozierenden habe ich nun endlich den Eindruck, Sprachunterricht bei einer qualifizierten und motivierten Lehrerin genießen zu können. Auch wenn das Tempo für meinen Geschmack etwas schneller sein dürfte, ist der Unterricht insgesamt wesentlich besser als alles bisher Dagewesene.
Meine vergangene Woche? 251 Seiten Uni-Lektüre
Da wir auch in diesem Semester gefragt sind, jede Menge schriftliche Leistungen für unsere Seminare einzureichen, bleibt keine Zeit für lange Verschnaufpausen. Bereits am Dienstag beginne ich mit der Lektüre eines Buches, das ich für das Seminar von Dr. Ford in einem Essay zusammenfassen soll. “The Crescent through the Eyes of the Cross“ (Der Halbmond durch die Augen des Kreuzes) heißt das Werk von Dr. Nabeel T. Jabbour, das ich im Laufe der Woche in Cafés zwischen Hamra und Gemmayzeh lese. Der arabisch-christliche Autor hat es sich zum selbsterklärten Ziel gemacht, einem christlichen Publikum die muslimische Perspektive auf das Christentum näher zu bringen. Letztlich aber scheint es vor allem um die Frage zu gehen, wie christliche Mission unter Muslimen möglichst fruchtbringend vonstatten gehen kann.
Dass es nicht nur im christlich-muslimischen, sondern auch im innerislamischen Diskurs zu Kommunikationsschwierigkeiten kommen kann, wurde bei einem öffentlichen Gespräch zwischen einem Shiiten und einem Sunniten an unserer Hochschule sichtbar. Im Vorfeld wurde der Dialog auf dem Podium als wichtiger Beitrag zum interkonfessionellen Dialog angekündigt – letztlich aber nutzten die beiden Repräsentanten ihre Redezeit für zwei mehr oder minder unabhängige Monologe. Wenngleich beide Redner die gemeinsamen Werte und Überzeugungen in den Vordergrund ihrer Argumentation stellten, schien ein konstruktiver Austausch mit Raum für Differenzen nicht in ihrem Interesse. Angesichts der starken Spannungen zwischen den beiden Strömungen stand letztlich jedoch die Bereitschaft im Vordergrund, überhaupt einen gemeinsamen Auftritt durchzuführen und ähnliche Standpunkte im Blick auf Werte und Ideale zu vertreten. Eine repräsentative Veranstaltung, die währenddessen von einem TV-Sender aufgezeichnet wurde.
Drei Heilige der Maroniten. In der Mitte: Saint Charbel.
Am Donnerstag feierten die Maroniten, die größte christliche Glaubensgemeinschaft des Landes ihren Namensgeber St. Maron, weshalb Schulen und Universitäten geschlossen blieben. Die Maroniten gehören der katholischen Kirche an und verehren eine Vielzahl von Heiligen. Der wohl bedeutendste aber ist Saint Charbel, ein libanesischer Mönch, der 1977 heiliggesprochen wurde. Der Mann mit langem Bart und Mönchskutte findet sich in Kirchen, Wohnungen und Autos maronitischer Christen wieder. Den Feiertag lassen Maxie und ich bei Bier und Skat mit ihrem maronitischen Bekannten Mark ausklingen. Obwohl sich der junge Pilot nicht als sonderlich religiös bezeichnet, scheint ihm der Heilige alles andere als egal. Als wir wenige Tage später einen Abend in der Wohnung seiner Großmutter verbringen, in der auch er zeitweise lebt, finden wir den Heiligen in jeder denkbaren Ecke. Ob als Figur im Flur, Sticker an der Wand oder Magnet auf dem Kühlschrank: An St. Charbel kommt hier keiner vorbei.
So präsent wie St. Charbel ist in diesen Tagen sonst nur Harry Potter, der Maxie und mir die Abende versüßt. Nachdem Lydia und Maxie in den letzten Monaten die Bücher als Audiofassung rauf und runter gehört haben, beschließen Maxie und ich am Freitagabend, einen kleinen Filmabend in ihrem Zimmer zu veranstalten. Gleich um die Ecke von der Hochschule befindet sich ein kleiner Laden, in dem gebrannte Filme für umgerechnet zwei Euro verkauft werden. Er ersetzt den fehlenden Streaminganbieter oder eine gute, alte Videothek. Mit Mikrowellenpopcorn, Mandalas und dem Orden des Phönix machen wir es uns vor dem Laptop gemütlich. Eine gute Gelegenheit, den Studienalltag zu vergessen und von einer Welt zu träumen, in der man sich sein Essen zaubern kann. Das Abendessen bringt uns im Nichts zurück in die Realität. Zu unserer Freude stellt sich zwischen Schwarztee und undefinierten Speisen aber auch heraus, dass eine Kommilitonin im Besitz der gesammelten Harry Potter Filme ist. Wir beschließen kurzerhand, viele Jahre in die Vergangenheit zu reisen, und das gesamte Werk erneut anzusehen. Zwei Tage später beginnen wir mit dem ersten Teil. Kaum ein Buch hat mich wohl so durch meine Kindheit und Jugend begleitet, wie die Geschichten aus Hogwarts.
Kaffee. Lesen. Schreiben. Repeat.
Die dritte Februarwoche beginnt mit einem gewöhnlichen Uni-Tag, den üblichen Seminaren und der täglichen Andacht. Mit meinen Gedanken bin ich an diesem Montag bei meinem Patenkind und ihrer Familie, die heute vor einem Jahr ihren Vater verloren hat. Der morgige Valentinstag ist ein Trauer- und Feiertag zugleich: Da am 14. Februar 2005 der ehemalige Ministerpräsident Rafiq Hariri ermordet wurde, bleiben alle öffentlichen Einrichtungen wie auch unsere Hochschule geschlossen. Nichtsdestotrotz wird auch hier – ähnlich wie in Deutschland und vielleicht noch eine Spur kitschiger - seit Tagen mit roten Rosen, pinken Bärchen und Schokolade in Herzform für den internationalen Tag der Liebe geworben. Für mich hat der Valentinstag erst im letzten Jahr an Bedeutung gewonnen:  Trotz der vielen Kilometer, die Jan und mich derzeit trennen, feiern wir (zumindest in Gedanken) am 14. Februar anderthalb gemeinsame Jahre.
Ich denke an unsere erste Begegnung im Juni 2008, als wir in Heidelberg beim 23. Geburtstag eines gemeinsamen Freundes aufeinandertrafen. Erinnere mich an stundenlange Telefonate und endlose Nachrichten zwischen Berlin und Adelshofen, bevor der Kontakt für sieben Jahre im Sand verlief. Habe den Moment vor Augen, als wir uns im Juni 2015 beim 30. Geburtstag desselben Freundes wiedertrafen, und die Korrespondenz von vorne begann – dieses Mal mit Happy End. 
„Gehend entsteht und stehend entgeht“ - Ein Satz, der mich seit meiner Oberstufenzeit begleitet und der die vergangenen anderthalb Jahre zwischen Kiel, Berlin und Beirut treffend zu beschreiben scheint. Ich bin sehr dankbar, einen zuverlässigen Partner, Schokoladenlieferanten, Wortspielkünstler, Handyspielprovider, aufmerksamen Zuhörer und außerdem ein weiteres zu Hause in Norddeutschland gefunden zu haben.
Bleibt zu hoffen, dass es mir und uns in den kommenden anderthalb Jahren trotz Reiselust und Bewegungsdrang gelingt, etwas mehr Zeit füreinander zu finden.
Bis dahin aber bleibe ich gespannt auf die kommenden Wochen und Monate in Beirut, in denen der Alltag mich immer wieder zu überraschen weiß und nicht aufhört, unablässig neue Geschichten zu schreiben.
[Wer mit dem Titel auch dieses Mal nichts anfangen kann]:





Sonntag, 5. Februar 2017

Libanesische Höflichkeit: Das Tankstellenprinzip.


Man könnte meinen, als Deutsche im Libanon befände man sich in der Minderheit. Hin und wieder begegnet man internationalen Studenten, meist mit einem starken amerikanischen Akzent. Touristenansammlungen vor beachtenswerten Sehenswürdigkeiten sind eine Ausnahme. Als Maxie und ich am Dienstagmorgen zum dritten Mal das Klassenzimmer an der amerikanischen Universität betreten, müssen wir jedoch feststellen, dass wir auch hier nicht unter uns sind. Stattdessen sitzen mit uns noch vier weitere Deutsche in dem Kurs, an dem etwa zwanzig Studierende teilnehmen. Nachdem das Vorlesungstempo in den ersten zwei Stunden eher langsam voranschritt, scheint der Dozent an diesem Morgen motiviert, weit auszuholen und die Vorgeschichte des Nahostkonflikts in aller Ausführlichkeit zu erläutern.
Den zweiten freien Nachmittag verbringen Maxie und ich mit Mandalas und Rapperinterviews. Ein entspannter Start in eine programmreiche Woche. In einem günstigen Kaufhaus legen wir uns außerdem eine Outdoorhose in doppelter Ausführung zu, die am kommenden Tag zur Skihose umfunktioniert wird.
Mit etwas Verspätung hält am Mittwochmorgen das 'Snow-Taxi' vor unserer Tür, und unser Fahrer Mario bringt uns in einer anderthalbstündigen Fahrt in die Berge. Mario spricht kaum Englisch, fordert aber Maxie dazu auf, ihre Musik an das Autoradio anzuschließen und das kleine Auto in einen morgendlichen Partybus zu verwandeln. Zwischen Deutschrap und entspannten Klängen wird der Druck auf den Ohren Serpentine für Serpentine stärker.
Faraya
Auf dem Weg hält Mario an zwei Tankstellen, um sich Wasser und Snacks zu kaufen. „Badkun shi?“ - Braucht ihr etwas? fragt er er jedes Mal, bevor er das Auto verlässt. Wir verneinen freundlich, und werden dennoch bei jedem Halt mit Tankstellengut versorgt. Beim ersten Stop schenkt er jeder von uns eine Flasche Wasser, bei der zweiten Station auf dem Rückweg werden wir mit Süßigkeiten und Trinkpäckchen überhäuft. Die libanesische Gastfreundschaft und scheinbar grenzenlose Höflichkeit überraschen mich immer wieder aufs Neue. Auch als Jan und ich im vergangenen November in einem Air'bnb unterkamen, wurden wir vom Besitzer des Appartements reich mit Getränken und Süßigkeiten beschenkt.

Oben angekommen, erwarten uns im Ski-Gebiet 'Faraya' eine vernebelte Schneelandschaft und -7 Grad. Der Ski-Verleih stattet uns mit Schuhen, Skiern und einem Snowboard für Lydia aus. Nach über zehn Jahren stehe ich plötzlich wieder auf Skiern, und lasse mir von Maxie erklären, wie ich möglichst langsam und sicher an das Ende der Piste gelange. Ich versuche, möglichst große Kurven zu fahren – was mir mal mehr und mal weniger gelingt - und schaffe es immerhin, im Laufe des Tages kein einziges Mal hinzufallen. Ein erfreulicher Umstand angesichts der Tatsache, dass ich eine nur begrenzt wasserfeste und einigermaßen improvisierte Funktionshose trage. Nach einer Pause am Mittag beglückt uns die Sonne, die langsam zwischen den Wolken hervorkommt, und dem zauberhaften Ski-Gebiet endlich ein Gesicht gibt. Mit klarer Sicht lässt es sich leichter fahren, und ich genieße den Blick auf die weiß gezuckerten Berge. Am Abend bringt uns Mario wieder zurück nach Beirut.
Tyros
Für den Donnerstag haben einige Studierende der N.E.S.T einen Ausflug ins südlich gelegene Tyros geplant. Da die Gruppe jedoch bereits am frühen Morgen abreist, gehe ich zunächst davon aus, auf Grund meiner Vorlesung an der AUB nicht teilnehmen zu können. Lydia aber überrascht mich mit einer kurzen Nachricht am Morgen, und beschließt auf mich zu warten. So fahren wir am frühen Nachmittag zu zweit in den Süden, und stoßen wenig später auf den Rest der Gruppe, die auf Grund des starken morgendlichen Verkehrs nur wenig früher an ihr Ziel gelangte als wir. 
Nach einem Mittagessen am Meer bestaunen wir die großen Ausgrabungen aus der Römerzeit, die Teil des UNESCO-Weltkulturerbes sind. Zwischen den beeindruckenden Säulen und Ruinen fällt wieder ein Mal auf, dass der Libanon auf Grund der instabilen politischen Situation und seiner geographischen Lage unter einem gravierenden Image-Schaden leidet, der dem Land und seinem kulturellen Reichtum alles andere als gerecht wird. Während sich eine vergleichbare Ausgrabungsstätte in Europa vor Besuchern vermutlich kaum retten könnte, spaziert unsere Gruppe nahezu allein über's Gelände. 
Wir schlendern durch die kleinen bunten Gassen, während wir über zahlreiche Märtyrerbilder und Portraits von Hassan Nasrallah stolpern: Es ist unverkennbar, dass wir uns im Süden des Landes befinden. Neben einer alten Burgruine der Kreuzfahrer finde ich im Sand unzählige spiralförmige Muscheln, von denen einige am Abend in meiner Jackentasche mit mir zurück nach Beirut kehren. Am Abend lernen Maxie und ich bei einem Bier mit einem Bekannten das Ausgehviertel 'Badaro' kennen. 
Auf dem Weg zum Hafen von Tyros
Das Wochenende wird mit einem ruhigen Freitag eingeleitet, an dem wir versuchen, den Kindern im Flüchtlingslager ein erstes Lied zum Muttertag beizubringen. Für die erste Runde läuft es vor allem mit den älteren Kindern ganz erfolgreich. Den Nachmittag und Abend nutze ich, um etwas Schlaf nachzuholen und mit Jan zu telefonieren.
Etwas Zeit, um Kraft zu tanken, bevor ich am kommenden Morgen mit Maxie und zwei ihrer libanesischen Freunde, Mark und Jad, ins Chouf-Gebirge fahre. Die beeindruckende Gegend, die mich an das Qadisha-Valley erinnert, wird vor allem von Drusen bewohnt.

Hannah, Maxie und der freundliche Friseur
Wenig ist über die drusischen Riten und Traditionen bekannt. Umso erfreulicher, als sich am Nachmittag die Gelegenheit ergibt, einen drusischen Friedhof zu besichtigen. In meinem Reiseführer, der bereits 1998 veröffentlicht wurde steht, man müsse sich beim Elektroshop gegenüber nach dem Schlüssel erkundigen. Einen Elektroshop finden wir nicht, dafür aber einen Friseur, der auf unsere Nachfrage prompt mit einem Nicken und einem Anruf reagiert. Wenige Minuten später kommt ein Mann auf seinem Motorrad angefahren, um sowohl den Schlüssel, als auch einen Stapel Broschüren über den Friedhof mitzubringen. Der freundliche Friseur beschließt kurzerhand, eine Arbeitspause einzulegen, und uns stattdessen in gebrochenem Englisch die einzelnen Elemente des Friedhofes zu erklären.


Auf dem drusischen Friedhof

Wie Pocahontas fühlen am natürlichen Pool <3
Die symbolische Vielfalt und die Bedeutung hinter den Skulpturen überraschen mich: Zwischen einem Ei, das symbolisch für das Leben steht, geheimnisvoll anmutenden Pyramiden und einer Lotuspflanze befinden sich auf dem Gelände auch verschiedene Elemente, die andere Religionen berücksichtigen: So lassen sich auf dem Friedhof auch Yin & Yang und eine Buddha-Figur finden, die für die Einheit Gottes in der Gesamtheit der Religionen stehen sollen. Ein klares Highlight auf unserer Tour.

Außerdem zeigen uns Mark und Jad nach längerem Suchen einen natürlichen Pool, in dem man im Sommer von der Klippe springen und baden gehen kann. Von den viel gepriesenen Zedern finden wir bedauerlicherweise nur eine, da der Weg in den Zedernwald wegen Schnee und Glätte gesperrt ist. Als wir auch auf diesem Ausflug mehrfach an Tankstellen halten, wiederholt sich das Spiel, das uns spätestens seit der Ski-Fahrt mit Mario bekannt ist: 'Badkun shi' – Braucht ihr etwas?, fragen die beiden höflich. Wir lehnen dankend ab, und bekommen wenig später Orangensaft und Erdnüsse überreicht. Zurück in Beirut werden wir obendrauf kurzerhand zum Essen eingeladen. 
Blick über das Chouf-Gebirge
Jede Abweichung von Kantinenessen ist mir eine willkommene Abwechslung.. Zurück an der N.E.S.T lassen Maxie und ich den Abend mit einem Film ausklingen.
Den letzten Tag der Ferienwoche verbringe ich im achten Stock der Hochschule, um auf das leuchtende Meer zu blicken und die Erlebnisse der letzten Tagen zusammenzufassen. Ab morgen beginnt das Sommersemester, in dem nicht nur die Kurse, sondern auch unser Arabischunterricht in eine zweite Runde gehen.