Mittwoch, 28. September 2016

Ankommen.


„It's a good time to come, its a bit too warm, but its quiet“, sagt der Taxifahrer, der im Eingangsbereich des Flughafens neben unzähligen anderen Wartenden steht und ein weißes Schild mit schwarzen Lettern in die Höhe hält. „N.E.S.T“ steht darauf. Die Near East School of Theology ist in den kommenden 9 Monaten mein zu Hause. Dort leben neben Theologiestudierenden nicht nur eine Handvoll fachfremder Studenten, sondern auch einige Dozenten. Es wird gemeinsam gelernt, gegessen und gebetet – Auf ein aktives Miteinander wird am Seminar offenkundig viel wert gelegt.

Die letzten Tage zwischen Kiel, London und Berlin waren wahnsinnig nervenaufreibend und unverhältnismäßig stressig. Zwischen Arztbesuchen, einem Haufen Papierkram und dem letzten Großeinkauf bei dm blieb wenig Zeit, um angemessen Abschied zu nehmen.
Getrieben von Rastlosigkeit, Vorfreude und Aufregung bin ich in den vergangenen Tagen von A nach B gerannt, um die letzten Erledigungen vor der Abreise von der To-do Liste streichen zu können. Jan hatte vor allem in den letzten Tagen das Vergnügen, mir hinterherrennen zu dürfen. Seine Ausdauer und Gelassenheit haben mir in vielen Momenten den Rücken gestärkt, in denen sich meine innere Ruhe längst verabschiedet hatte. Mit einem neuen Koffer und gemischten Gefühlen mache ich mich also auf den Weg, und lasse das Chaos hinter mir. Zumindest für einen Moment.

3 ½ Stunden später fliegen meine Kommilitonin Maxie und ich bereits über die Küste von Beirut. Wir blicken auf eindrucksvolle Villen mit großen Swimmingpools und heruntergekommene Häuser am Strand, bevor unser Flieger mit einer Vollbremsung landet.
Nachdem wir eine Weile einigermaßen planlos in der Schlange der Passkontrolle stehen, werden wir freundlich darauf hingewiesen, dass wir zunächst unser Visum bezahlen müssen. Mein Herz klopft ein bisschen lauter als sonst, aber die Einreise verläuft letztlich ohne Schwierigkeiten.

An der N.E.S.T angekommen werden wir in unsere Zimmer geführt. Während die zwei Jungs unserer Gruppe ein Doppelzimmer auf der Männer-Etage haben, sind wir Frauen ein Stockwerk höher in drei Einzelzimmern untergebracht. Ein kleiner Rückzugsort, der im sonst so gemeinschaftlich ausgerichteten Alltag sicher nicht schadet. Nach einem kleinen abendlichen Spaziergang durch die umliegenden Straßen und einer Pizza zum Abendbrot falle ich erschöpft ins Bett.
Der erste Tag beginnt mit Pita, Labane, kleinen Gurken und einem Rest schwarzen Tee. Bei einem Orientierungstreffen stellen sich die anderen internationalen Studenten vor. Außer uns fünf deutschen Theologen sind auch Studentinnen aus Schweden und den U.S.A angereist. Die arabischsprachigen Kommilitonen, die mir bisher begegnet sind, kamen alle aus Syrien. Tatsächlich aber studieren an der N.E.S.T Theologiestudierende aus dem gesamten arabischen Raum. Erwartet werden derzeit außerdem noch einige Armenier, die momentan den Unabhängigkeitstag in Armenien zelebrieren und erst danach an die Uni zurückkehren werden.
Am Nachmittag begeben wir uns auf den Weg in einen Handyladen, um uns mit einer libanesischen Sim-Karte auszustatten. Internet und Telefonie sind hier im Vergleich zu Deutschland nicht nur wesentlich teurer, das System scheint auch deutlich komplizierter. Ob selbst nach der dritten Diskussion jeder begriffen hat, wie das Tarifsystem des Anbieters wirklich funktioniert bleibt offen – Immerhin aber haben am Ende alle eine neue Nummer.
Am Nachmittag spazieren wir durch Hamra – das Viertel in dem unsere Uni liegt - herunter ans Meer. An der Corniche - der Strandpromenade - zeigt sich Beirut von seiner prunkvollen Seite: Wolkenkratzer ragen in den Himmel, überdimensionierte Autos - die ich sonst nur aus Rapperinterviews kenne - fahren durch die Straßen, und am Hafen liegen teure Yachten im Wasser. Auch in Hamra scheint die Armut in weiter Ferne. Zwischen Starbucks und H&M reiht sich ein feines Restaurant an das nächste. Unweit von unserem Haus ist außerdem die amerikanische Universität gelegen, die das Bild des Viertels deutlich prägt. Dort lernt die libanesische und internationale Elite, die den westlichen Lebensstil für sich entdeckt zu haben scheint. 

Im Vergleich zu anderen arabischen Ländern, in denen ich bislang durch die Straßen lief, fällt man in Hamra kaum auf. Frauen spazieren in sportlichen Shorts und kurzen Sommerkleidern durch die Straßen, die Blicke und Kommentare halten sich deutlich in Grenzen. Ob dies auch für die Viertel hinter den Grenzen Hamras gilt, wird sich in den kommenden Tagen sicherlich zeigen.
Heute wird das Semester mit einem offiziellen Gottesdienst eingeleitet. Im Anschluss findet der erste Kurs statt. Auf dem Plan steht eine Einführung in die zeitgenössischen Ost-Kirchen. Unsere Dozentin, Dr. Rima, ist uns bereits im ersten Orientierungstreffen begegnet und macht einen sehr selbstbewussten und humorvollen Eindruck. 
 
Auf dem weiteren Programm für die Woche steht außerdem die Organisation eines Arabischkurses. Da nahezu alle internationalen Studierenden an einem Sprachkurs interessiert sind, versucht die Uni derzeit einen Lehrer für uns zu finden, der bereit ist, uns mehrmals wöchentlich in den Räumen der N.E.S.T zu unterrichten. Darüber hinaus hat die Universität offenbar zahlreiche Kontakte zu sozialen Einrichtungen, die sich über Unterstützung durch Freiwillige freuen. Gerade die Arbeit mit Kindern oder älteren Menschen könnte eine gute Gelegenheit bieten, um möglichst viel Arabisch zu lernen. 
 
Zunächst aber heißt es: Ankommen, durchatmen, langsam angehen lassen. Die Seele reist langsamer, als der Körper, heißt es. Oder mit den Worten eines arabischen Sprichwortes: Die Seele reist mit der Geschwindigkeit eines Kamels.
Es wird sicher noch eine ganze Weile dauern bis ich begriffen habe, wo ich hier gelandet bin – und dass dies in den kommenden 9 Monaten mein neues zu Hause sein wird.